Wir schielen gerne auf Elite-Unis…
Das Österreichische Gesundheitswesen. Teil 4: Wir schielen gerne auf Elite-Unis...
Ein offener Brief.
Die Beiträge des offenen Briefes:
Das österreichische Gesundheitswesen
- Teil 1: Downgrading | Apocalypto (online am 22.09.2023)
- Teil 2: Prolog | Medizin, Recht und Wirtschaftlichkeit (online am 23.10.2023)
- Nachwort zu Teil 1: Die Kunst des Herumwurschtelns | Teil 1a: Apocalypto, was noch gesagt werden muss (online am 06.09.2024)
- Teil 3: Über Effektivität und Effizienz (online am 20.09.2024)
- Teil 4: Wir schielen gerne auf Elite-Unis… (online am 04.10.2024)
- Teil 5: Organisationsverschulden (online am 18.10.2024)
- Teil 6: Der Honorarkatalog: eine wesentliche Stellschraube | Ich würde sofort einen Kassenvertrag annehmen, … (online am 08.11.2024)
- Teil 7: Die Pharmafalle (online am 29.11.2024)
- Teil 8: Datenausverkauf aggregierter Gesundheitsdaten (online am 13.12.2024)
Irgendwann, fast am Ende meines eigenen Medizinstudiums
Vor nicht allzu langer Zeit, war ich an der Universitätsklinik für Radiologie, um in den klinischen Alltag einzutauchen, sprich eine sogenannte Famulatur zu machen.
Ich höre noch nach Jahrzehnten die sehr bestimmten Worte des Universitätsdozenten, dem mehrere Ausbildungsärzte und ich als Student zugeteilt waren, in meinen Ohren – als ob ich noch wie damals im Befundraum stünde. Er sagte zu einem der Assistenzärzte:
„Sie sind wie ein Maulwurf ohne Erde.
Ein Radiologe, der von der Anatomie des Menschen keine Ahnung hat, ist wie ein Maulwurf ohne Erde.
Gehen Sie aus meinem Befundraum und kommen Sie erst wieder, wenn sie alles nachgelernt und gut wiederholt haben, was sie eigentlich schon längst wissen sollten.
Kommen Sie erst wieder in meinen Befundraum, wenn Sie sattelfest sind.
Wenn Sie die normale Anatomie des Menschen nicht können, werden früher oder später Menschen zu Schaden kommen.
Entweder Sie können die Anatomie oder Sie können die Anatomie nicht. Sie brauchen einen Grundstock, auf dem Sie aufbauen können. Und
Man erkennt nur was man kennt und
Man sieht nur, was man kennt.“
Ich durfte im Befundraum bleiben und wurde weiter geprüft und unterrichtet.
Dieses war nur eines von vielen Erlebnissen, die meine eigene klinische Tätigkeit und Alltag prägen sollten.
***
Irgendwann, während meiner klinischen Ausbildung
fragte ich mich, ob ich die Medizin nicht verlerne. Ich war rund um die Uhr mit paraklinischen Tätigkeiten wie dem Verabreichen von Subkutan-Injektionen, dem Blutabnehmen, dem Anhängen von Infusionsflaschen und mit einer schier überbordenden administrativen Tätigkeiten beschäftigt.
Es schien, dass jeder Handgriff, bei dem etwas passieren hätte können, von Ärzten/innen gemacht hätte werden müssen. Dass auf jedem Zettel, der nur ein bisschen Verantwortung mit sich gebracht hätte, eine ärztliche Unterschrift sein musste, um Verantwortung abzuschieben.
Es schien keine Trennung zwischen Anordnungs- und Durchführungsverantwortung zu geben. Vielmehr schien die gesetzlich klare Trennung zwischen der Anordnungsverantwortung und Durchführungsverantwortung im klinischen Alltag in Österreich unbekannt.
Glück im Unglück:
Ich zerbrach nicht, sondern lernte noch schneller zu arbeiten, um meinen „klinischen Ausbildungs-Alltag“ doch noch ein wenig mit Medizin füllen zu können. Theorie paukte ich ohnehin zuhause in meiner spärlichen Freizeit zwischen den Diensten (und meiner wissenschaftlichen Tätigkeit).
Außerdem versuchte ich diese unsägliche triste Nicht-Ausbildungssituation zu verbessern (ich schrieb hierzu bereits die Beiträge Apocalypto, veröffentlicht am 22.09.2023, und Die Kunst des Herumwurschtelns oder Apocalypto – was sonst noch gesagt werden muss, veröffentlicht am 06.09.2023).
***
Wir schielen gerne auf amerikanische Elite-Unis
und sehen uns ständig Leid und zergehen in falscher Bewunderung.
Wir schielen gerne mit meist verklärtem Blick auf die sagenumwobenen amerikanischen medizinischen Top Universitäten. Als ob jene, die dort eintreten bereits Wunderwuzzis wären oder spätestens dann, wenn sie dort ihr Doktorat erhalten, frisch gebackene Wunderwuzzis wären.
Ein Mythos umhüllt manche US-amerikanische Top- oder Elite-Universitäten. Namen wie Yale, Harvard, Stanford, Colombia oder Berkeley lösen Begeisterung, Bewunderung, aber auch Ehrfurcht in uns aus. Dort funktioniere alles perfekt. Medizin, wie sie sein sollte, makellos wie aus dem Lehrbuch gepellt, kritisch und sich selbst hinterfragend wie im Hörsaal und spätestens am Krankenbett gelehrt.
Wer dort seine Ausbildung erfahren würde, würde Medizin wie von einem anderen Stern erlernt haben. Ohne Konkurrenz weit und breit sein. Medizin machen, die ihresgleichen suche.
Sehnlichst gewünscht, aber unerreichbar, denken viele.
Wir verkennen aber, dass über dem großen Teich auch nur mit Wasser gekocht wird. Ausbildung und Expertise waren noch nie durch göttliche Fügung oder Eingebung, einen Lotteriegewinn oder Wink des Schicksals bedingt, sondern stets das Ergebnis jahrelanger Arbeit und Mühen. So auch an den Top-Unis über dem großen Teich.
Wir verkennen, dass wir stets nur von einigen wenigen Top- bzw. Elite-Unis in den USA sprechen und blenden die vielen Schwächen des an sich schlechten öffentlichen amerikanischen Gesundheitssystems und die teils prekäre Krankenversorgung von vielen hundert Millionen US-Amerikanern/innen aus.
Wir verkennen, dass es kein Zeichen von Fortschritt ist, wenn viele Medikamente wie Antibiotika oder Schmerzmittel im Supermarkt ohne Rezept gekauft werden können und sich Pharma-Werbung im Fernsehen und Radio direkt an medizinische Laien und Betroffene richtet. Viele Menschen können sich schlichtweg keine ärztliche Konsultation und Verschreibung des richtigen Medikaments leisten. Anstelle einer fachgerechten Behandlung tritt die Selbstbehandlung.
Wir verkennen die Stärken unseres Gesundheitssystems.
Wir verkennen unser großartiges Fundament und Tradition in den Grundlagenfächern, insbesondere der Histologie (und daraus abgeleiteten und weiterführenden Fächern) und Anatomie, die enorme Chancen und Möglichkeiten in allen operativen und konservativen Fächern bieten und für das Verständnis des komplexen menschlichen Organismus wesentlich sind.
Über dem großen Teich wird auch nur mit Wasser gekocht.
Ich kann mich noch gut an eine wissenschaftliche Arbeit über sogenannte axonale Sphäroide von Nervenfasern in der Multiplen Sklerose einer amerikanischen Arbeitsgruppe in einem hochrangigen US-amerikanischem Wissenschaftsjournal erinnern.
Die Arbeit wurde in den USA als großartige wissenschaftliche Neuigkeit diskutiert, war aber tatsächlich nur althergebrachtes Wissen im deutsch- und französischsprachigem Raum (vgl. Axonal transection in the lesions of multiple sclerosis. Trapp BD, Peterson J, Ransohoff RM, Rudick R, Mörk S, Bö L. N Engl J Med. 1998 Jan 29;338(5):278-85.).
Bevor Englisch internationale Sprache der Wissenschaft wurde, waren Deutsch und Französisch die Sprachen, mit denen in der Wissenschaft kommuniziert wurden. Wesentliche Grundlagen-Arbeiten der Neurologie und Neuropathologie sind in Deutsch als auch in Französisch publiziert und somit Amerikanischen und Englischen Wissenschaftlern/innen zum Großteil unbekannt.
Wir – ich war damals selbst in der Wissenschaft – verstanden die Welt nicht mehr, wie mit so althergebrachtem Lehrbuchwissen eine Publikation in einem Top-Wissenschaftsjournal publiziert werden konnte, wo wenn überhaupt nur wissenschaftliche Neuigkeiten mit Mehrwert publiziert werden (können). Der Platz in Wissenschaftsjournalen ist rar, wie mir über viele Jahre wiederholt von Chefredakteuren von Wissenschaftsjournalen mitgeteilt wurde, als sie unsere Arbeiten Kommentare und Briefe abgelehnt haben.
Axonale Sphäroide, das heißt Schwellungen nach Nervenfaser-Durchtrennungen, kommen bereits im gesunden Gewebe vor. Plakativ: Axonale Sphäroide, sind mikroskopische Amputationsstümpfe nach Nervenfaserdurchtrennung. Die kugelrunden Axon-Sphäroide mussten in Wien bereits von Studierenden im dritten Semester unter dem Mikroskop erkannt werden, um die Prüfung in Histologie und Embryologie bestehen zu können.
Ja, die über dem großen Teich kochen auch nur mit Wasser.
Das bedeutet aber nicht, dass im Staate Österreich alles in Ordnung ist.
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Es gilt nach vorne zu blicken und an die Zeiten der großen Wiener Medizinischen Schule wieder anzuknüpfen und auch die Digitalisierung sehr gut in den klinischen Alltag einfließen zu lassen, aber ohne Bewährtes zu zerschlagen.
Ich finde es gut, dass wir auf amerikanische Elite-Unis schielen, um unser eigenes Gesundheitssystem und insbesondere unsere Ausbildung zu verbessern.
Kurzum, es ist gut, sich Dinge abzuschauen, die anderswo gut funktionieren, um sich selbst bzw. das eigene System zu verbessern.
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Schielen wir nicht nur, sondern schauen ins Detail
In vielen Ländern – auch in den vielbeachteten Top- bzw. Elite-Unis ist das Medizin-Studium kürzer als bei uns in Österreich. Bevor in Österreich aber nun gleich das Medizinstudium reflexartig verkürzt würde, gilt es aber genau hinzuschauen:
In vielen Ländern müssen Studierende bzw. angehende Ärzte/innen viel rascher eigenverantwortlich arbeiten, das heißt sie müssen bald Patienten/innen untersuchen und auch behandeln. Und dies in Ländern, in denen oft reflexartig alles Mögliche eingeklagt wird. Länder, denen wir skurrile Gebrauchsanleitungen zu verdanken haben, nämlich dass Kleintiere nicht in Mikrowellengeräten getrocknet werden dürfen oder Kleinkinder kleine Gegenstände, die in ihren Mund passen können, verschluckt werden können.
Wie kann eine kürzere Ausbildung und rasches eigenverantwortliches Arbeiten von Auszubildenden in Ländern, in denen solche Gebrauchsanweisungen notwendig sind, funktionieren?
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Von einem, der auszog, um sein Glück in den Staaten zu finden oder
wie Ausbildung tatsächlich funktionieren könnte.
Als ich noch auf der Hirnforschung Wien war, hörte ich mit großem Interesse einen wissenschaftlichen Vortrag. Aber noch interessanter als der Vortrag selbst waren die Erzählungen des Vortragenden danach.
Der Vortragende war Österreicher, studierte in Wien und begann seine klinische Ausbildung in Wien.
Er erhielt ein Stipendium und setzte seine Ausbildung zum Facharzt für Neurologie an einer renommierten Klinik an der Ostküste in den USA fort.
Seine Geschichte war ähnlich wie jene Geschichten, wie ich bereits von anderen gehört hatte beziehungsweise darüber im Roman House of God von Samuel Shem aus dem Jahre 1978 gelesen habe:
Er erzählte, dass er bereits ein halbes Jahr nach Beginn seiner Ausbildung in der Notfallambulanz eingesetzt hätte werden sollen, um etwaige Patienten/innen eigenverantwortlich neurologisch zu untersuchen und zu behandeln, das heißt selbständig Entscheidungen zu treffen.
Natürlich wäre ein Back-up zur Verfügung gestanden. Die zuständigen Fachärzte/innen hätten aber nur selten gerufen werden müssen, da man davon ausging, dass er sich für seine eigenverantwortliche Tätigkeit in der Notfallambulanz in den nächsten 6 Monaten gut vorbereiten würde, wie alle anderen vor ihm.
Zwei Ausbildungsverantwortliche wären ihm diese 6 Monate Tag und Nacht zur Seite gestanden. Sie hätten für Fragen stets erreicht werden können. Diese hätten sich Arbeits- und Freizeiten so einteilen müssen, dass sie stets erreicht werden hätten können.
Ziel von allen dreien war, dass er – ihr Schützling – in einem halben Jahr eigenverantwortlich – selbstständig Patienten untersuchen und über das weitere Prozedere entscheiden könne.
Etablierte SOP (standardized operating procedure) gaben im Sinne eines Organisationsverschulden zusätzliche rechtliche Sicherheit. Ein Organisationsverschulden würde in den Staaten nämlich anders als in Österreich tatsächlich gelebt werden. Fachärzte/innen wären nämlich selten Vorort und würden nur selten von Ausbildungsärzten/innen gerufen.
Wie bestimmte Zusatzuntersuchungen (Computertomografien, Magnetresonanztomografien, Laboruntersuchungen usw.) würden Anrufe an Fachärzte/innen in Bereitschaft konsequent im Nachhinein evaluiert werden, da sie zusätzliche Kosten verursachen und grundsätzlich hinterfragt werden. Entscheidungen, eine Zusatzuntersuchung oder Konsultation anzufordern, müssen Evidenzbasiert und im Rahmen der gültigen SOP sein.
Der beste Arzt bzw. die beste Ärztin sind jene, die mit klinischer Diagnostik die richtige Diagnose machen und ausschließlich notwendige Untersuchungen indizieren, und
nicht jene, die aus welchen eigenartigem Verständnis oder Angst heraus alle möglichen Untersuchungen zu veranlassen, um nicht zu „übersehen“ bzw. „alles gemacht zu haben“.
Die SOP bedeuten in Übersee rechtliche Sicherheit, da im Falle des Falles die Organisation – das Spital mit seinen SOP – haftet, und nicht die Schwächsten in der Kette, die womöglich alles richtig gemacht haben, aber gegen einen schicksalhaften Verlauf machtlos sind.
Gut etablierte SOP und ein gut gelebtes Organisationsverschulden beugen auch sinnlosen Untersuchungen und somit der Defensivmedizin vor.
In den sechs Monaten Vorbereitungszeit wäre er wie in einer Kaserne meist in der Klinik gewesen und nur zum Schlafen nach Hause gekommen oder um die Post durchzusehen und Rechnungen zu bezahlen.
In den Stunden ohne Patientenkontakt hätte er stets die Leit- und Richtlinien und die wesentliche wissenschaftliche Literatur durcharbeiten müssen, um seine Fälle gut und prägnant – concise and precise – präsentieren zu können. Ständig wäre er – angekündigt und auch unangekündigt – geprüft, aber auch angeleitet worden: am Krankenbett und im Besprechungsraum. Seine Lernkurve ging steil nach oben. Kein Patient und keine Patientin waren zu viel. Jeder Patient und jede Patientin, auch jene, die glaubten krank zu sein, waren wichtig, um zu lernen und um schneller, effizienter und vor allem sicherer zu werden.
Am Ende der sechs Monate wurden er und demnach auch seine Ausbildungsverantwortlichen von einer Kommission geprüft und mussten Rede und Antwort stehen:
- Er, ob er sein Ziel, die Ausbildungsinhalte erlernt hat und auch beherrscht, und
- seine beiden Ausbildungsverantwortlichen, ob sie ihm die Ausbildungsinhalte auch tatsächlich so vermittelt haben, dass er die kommissionelle Prüfung und vor allem den Klinikalltag bestehen konnte.
Hätte er versagt, hätten sich alle erklären müssen.
Für Rückfragen und konstruktive Diskussionen stehe ich zur Verfügung.
Ihr
Fahmy Aboulenein-Djamshidian
Facharzt für Neurologie
Es ist nicht wichtig,
wer bewirkt,
sondern dass bewirkt wird.