Organisationsverschulden
Das Österreichische Gesundheitswesen. Teil 5: Organisationsverschulden über den Tellerrand geblickt.
Ein offener Brief.
Die Beiträge des offenen Briefes:
Das österreichische Gesundheitswesen
- Teil 1: Downgrading | Apocalypto (online am 22.09.2023)
- Teil 2: Prolog | Medizin, Recht und Wirtschaftlichkeit (online am 23.10.2023)
- Nachwort zu Teil 1: Die Kunst des Herumwurschtelns | Teil 1a: Apocalypto, was noch gesagt werden muss (online am 06.09.2024)
- Teil 3: Effektivität und Effizienz (online am 20.09.2024)
- Teil 4: Wir schielen gerne auf Elite-Unis… (online am 04.10.2024)
- Teil 5: Organisationsverschulden (online am 18.10.2024)
- Teil 6: Der Honorarkatalog: eine wesentliche Stellschraube | Ich würde sofort einen Kassenvertrag annehmen, … (online am 08.11.2024)
- Teil 7: Die Pharmafalle (online am 29.11.2024)
- Teil 8: Datenausverkauf aggregierter Gesundheitsdaten (online am 13.12.2024)
Die Organisation.
Das sogenannte Organisationsverschulden spielt eine große Rolle, wenn die zukünftigen Herausforderungen im österreichischen Gesundheitssystem gemeistert werden sollen.
Organisationen wie Krankenhäuser entstehen per se, wenn viele unterschiedliche Berufsgruppen, Mittel und Arbeitsschritte notwendig sind und zusammenwirken, um ein gemeinsames Ziel der Organisation, in der sie arbeiten, zu erreichen.
Ziel der Organisation Krankenhaus ist, den gesetzlichen Auftrag, die Patienten und Patientinnen optimal zu versorgen, zu erfüllen. Hierzu müssen ausreichend qualifiziertes Personal und Mittel, die notwendig sind, bereitgestellt und entsprechend koordiniert werden.
Um beispielsweise einen Patienten operieren zu können, sind viele einzelne Schritte notwendig, die in einander greifen und flüssig ablaufen müssen, um effektiv und effizient, das gewünschte Ziel zu erreichen, nämlich den Patienten gut und rasch, ohne Komplikationen operiert zu haben und wieder rasch entlassen zu können.
Dies fängt streng genommen bereits bei der Bestellung von Medizinprodukten und sonstigen benötigten Material an, schließt bereits den Portier am Eingang, das Reinigungs- und Küchenpersonal, Anästhesie, Radiologie, Labormedizin, Chirurgie, Pflege auf der Station und im Operationssaal, Administration, Technik und vieles anderes mehr mit ein.
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Die Organisation – das Krankenhaus – hat für den reibungslosen Ablauf zu sorgen, um die Behandlung von Patientinnen und Patientinnen effektiv und effizient zu gewährleisten.
- Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten müssen klar geregelt sein.
- Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen müssen ausgewählt, geschult und adäquat eingesetzt werden.
- Organisatorische Abläufe müssen die medizinischen und pflegerischen Standards gewährleisten.
Die organsiatorischen Abläufe für Not- und Routinesituationen müssen klar geregelt sein, da sie für die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen verbindlich gelten.
Diese verbindlichen Organisations-Regeln für organsiatorischen Abläufe bedingen die Haftung der Organisation – des Krankenhausträgers bzw. Krankenhauses.
Die organisatorischen Abläufe werden meist in sogenannten SOP (standardized organized procedures), aber auch der Hausordnung, diversen Abteilungsregelungen, Dienstplänen oder wie auch immer solche verbindlichen Regeln genannt werden, verbindlich geregelt.
So verbindlich und starr wie die Regelungen der organisatorischen Abläufe auf den ersten Blick vielleicht wirken mögen, so sehr sind sie einer ständigen Überprüfung und Veränderung unterworfen, um dem Fortschritt und Veränderungen von Ressourcen und Grundbedingungen gerecht zu werden.
- Das Recht gibt die Rahmenbedingungen vor.
- Die Medizin und auch die Organisation gestalten den Rahmen innerhalb der rechtlich festgelegten Rahmenbedingungen aus.
- Die Organisationsregeln sind für die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Organisation verbindlich und sind Grundlage für die rechtliche Haftung der Organisation – dem Verschulden der Organisation bzw. Organisationsverschulden.
- Die Organisationsregeln bedingen die Struktur und sohin die Effektivität und Effizienz einer Organisation. Eine Organisation ist demnach nur so gut wie seine Organisationsregeln.
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Das Organisationsverschulden.
Der sperrige Begriff Organisationsverschulden besagt, sehr einfach gehalten, dass eine Organisation – im Gesundheitswesen ist hiermit oft ein Krankenhaus gemeint – für einen Schaden einsteht, der durch ein Verschulden der Organisation selbst entstanden ist (und nicht die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die in diesem Krankenhaus oder dieser Organisation arbeiten). Natürlich setzt das Organisationsverschulden voraus, dass die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen nicht rechtswidrig gehandelt haben, das heißt weder fahrlässig noch vorsätzlich einen Schaden verursacht haben.
Ein gut etabliertes klar nachvollziehbares Organisationsverschulden soll Sicherheit für alle Beteiligten – Patienten und Patientinnen und das Personal – im Gesundheitssystem schaffen.
Das Organisationsverschulden soll nicht dazu dienen, Verantwortung von der Organisation auf ihre Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen abzuwälzen, sondern für ihre Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen Sicherheit schaffen. Dies ist gerade in gefahrengeneigten Berufen in der Medizin unabdingbar.
Dadurch schafft ein etabliertes transparentes Organisationsverschulden mit einer entsprechenden Fehlerkultur erst Effektivität und Effizienz, die notwendig sind, um der zunehmenden Leistungsdichte und Kostendruck gerecht zu werden. Leerläufe, Dauerschleifen, sinnlose, unnötige Arbeitsschritte, insbesondere sinnlose Untersuchungen und Wartezeiten, könn(t)en so vermieden werden.
Daraus folgt auch, dass nicht jeder Handgriff im Gesundheitssystem von einer für diesen Handgriff überqualifizierten Person durchgeführt werden muss, eigentlich darf. Dies ist Vernichtung von Ressourcen.
Oberstes Gebot im ärztlichen und pflegerischen Handeln ist stets die Sicherheit der Patienten und Patientinnen.
Daraus ergeben sich die wesentlichen Pflichten von Krankenhäusern, nämlich dass stets die Sicherheit von Patienten und Patientinnen, aber auch die Sicherheit von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen gewährleistet sein muss.
Niemand darf einer vermeidbaren Gefahr ausgesetzt werden, die durch allgemein anerkannte Standards hätten verhindert werden können.
Die Organisation – im Gesundheitswesen die Krankenhausträger, kurz Spitäler oder Krankenhäuser – haben ihre Pflichten wahrzunehmen. Verletzen sie ihre Pflicht, trifft sie grundsätzlich das sogenannte Organisationsverschulden.
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SOP, Algorithmen und dergleichen…
Mit gut ausgearbeiteten Algorithmen,
die Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten, insbesondere Anordnungs- und Durchführungsverantwortung, klar festlegen, kann diplomiertes Pflegepersonal nicht diplomiertes Pflegepersonal anleiten und Zeit und Ressourcen schonen.
Mit gut ausgearbeiteten Algorithmen und entsprechenden gesetzlichen Änderungen, die die Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten, insbesondere Anordnungs- und Durchführungsverantwortung, klar festlegen, könnten Ärzte und Ärztinnen in Ausbildung bereits sehr früh Verantwortung übernehmen, ohne sich überzunehmen, und dabei viel mehr lernen als je zuvor und dabei auch das Gesundheitssystem entlasten:
A. durch die dadurch (noch) bessere Ausbildung der jungen Ärzte und Ärztinnen und
B. durch die Entlastung der Fachärzte und Fachärztinnen (durch das frühe selbständige, eigenverantwortliche Arbeiten der jungen Ärzte und Ärztinnen in Ausbildung.
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No na ned.
Evident ist, dass ein Gesundheitssystem umso billiger ist, je effektiver und effizienter das Gesundheitssystem ist.
Ein Gesundheitssystem ist umso effektiver und effizienter, je besser die Ausbildung und Motivation derer ist, die in dem Gesundheitssystem arbeiten.
und
Ein Gesundheitssystem ist umso effektiver und effizienter, je mehr diejenigen, die im Gesundheitssystem arbeiten und das System erst ermöglichen, durch ein gut etabliertes Organisationsverschulden geschützt werden, und sich die Organisation im Falle des Falles nicht an ihren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen „abputzt„.
Für Rückfragen und konstruktive Diskussionen stehe ich zur Verfügung.
Ihr
Fahmy Aboulenein-Djamshidian
Facharzt für Neurologie
P.S.
Ich werfe weder vor noch klage ich an. Deswegen habe ich die vielen absurden Beispiele des Spitalalltags hier nicht erwähnt, die ich Tag aus Tag ein und Nacht für Nacht über viele Jahre erleben musste, die das System enorm ineffizient und teuer gemacht haben und der Defensiv-Medizin und Pseudoforensik Vorschub geleistet haben.
Es ist nicht wichtig,
wer bewirkt,
sondern dass bewirkt wird.

