Ich würde sofort einen Kassenvertrag annehmen,
Das Österreichische Gesundheitswesen. Teil 6: Der Honorarkatalog: eine wesentliche Stellschraube.
Ein offener Brief.
Die Beiträge des offenen Briefes:
Das österreichische Gesundheitswesen
- Teil 1: Downgrading | Apocalypto (online am 22.09.2023)
- Teil 2: Prolog | Medizin, Recht und Wirtschaftlichkeit (online am 23.10.2023)
- Nachwort zu Teil 1: Die Kunst des Herumwurschtelns | Teil 1a: Apocalypto, was noch gesagt werden muss (online am 06.09.2024)
- Teil 3: Über Effektivität und Effizienz (online am 20.09.2024)
- Teil 4: Wir schielen gerne auf Elite-Unis… (online am 04.10.2024)
- Teil 5: Organisationsverschulden (online am 18.10.2024)
- Teil 6: Der Honorarkatalog: eine wesentliche Stellschraube | Ich würde sofort einen Kassenvertrag annehmen, … (online am 08.11.2024)
- Teil 7: Die Pharmafalle (online am 29.11.2024)
- Teil 8: Datenausverkauf aggregierter Gesundheitsdaten (online am 13.12.2024)
Ich würde sofort einen Kassenvertrag annehmen,
wenn ich mit einem Kassenvertrag so arbeiten würde können,
wie ich dies in meiner Ausbildung zum Facharzt für Neurologie gelernt habe.
Gesetzliche Krankenversicherungspflicht.
In Österreich besteht glücklicherweise eine gesetzliche Krankenversicherungspflicht.
Das heißt, dass in Österreich grundsätzlich alle Menschen gesetzlich verpflichtende Krankenversicherungsbeiträge einzahlen und somit krankenversichert sind und deswegen ohne Einschränkungen ärztliche Leistungen, sofern diese notwendig und sinnvoll sind, in Anspruch nehmen können.
Wir sind und handeln als Solidargemeinschaft.
Alle für eine/n. Eine/r für alle.
Die Krankenversicherungsträger, kurz: die Krankenkassen.
Die gesetzlichen Krankenversicherungsträger – kurz Krankenkassen – verwalten unser aller Krankenversicherungsbeiträge. Die Krankenkassen achten vor allem darauf, ob unser aller Geld – die Krankenversicherungsbeiträge – sinnvoll verwendet wird.
Das Gesetz schreibt vor, dass ärztliche Leistungen (a) notwendig, (b) ausreichend und (c) zweckmäßig sein müssen.
Für nicht notwendige, überschießende und vor allem nicht zweckmäßige medizinische Leistungen soll beziehungsweise darf unser aller Geld – unsere Krankenversicherungsbeiträge – nicht verschwendet werden.
Nur weil manche eine Ganzkörper-MRT, unzählige sinnlose Laboruntersuchungen oder „Infusionskuren“ machen lassen möchten, heißt dies nicht, dass dies medizinisch indiziert ist und wird somit auch nicht von uns allen – der Solidargemeinschaft – bezahlt.
Nicht jede als sinnvoll angepriesene ärztliche Leistung oder Untersuchung ist auch tatsächlich sinnvoll.
Was und wie viel bezahlt wird und was nicht, ist in den sogenannten Honorarverordnungen bzw. Honorarkatalogen der Krankenkassen aufgelistet.
Im Honorarkatalog sind viele antiquierte und auch zum Teil obsolete ärztliche Leistungen angeführt, das heißt Leistungen, die nicht (mehr) in Ordinationen durchgeführt werden dürfen. Der Honorarkatalog sollte vollständig überarbeitet werden.
Dies würde auch, geschickt und gut durchüberlegt, eine wesentliche Systemänderung mit sich bringen und die Drehtürmedizin oder Durchschleusemedizin abstellen können und das System insgesamt effizienter gestalten lassen können.
Kurz zusammengefasst:
- Es ist wichtig, dass es eine gesetzliche Krankenversicherungspflicht gibt und dass wir alle als Solidargemeinschaft medizinische und insbesondere ärztliche Leistungen für jeden und jede, die diese benötigen, möglich machen.
- Es ist schön in einem Land zu leben, in dem wirklich allen Menschen, ob sie sich nun eine ärztliche Behandlung leisten können oder nicht, geholfen werden kann. Notfallmedizin, teure Therapien, Operationen oder Spitalsaufenthalte uvm. werden von uns allen – der Solidargemeinschaft – mit unseren Krankenversicherungsbeiträgen bezahlt.
- Unser Geld muss zweckmäßig verwendet werden, damit jene, die tatsächlich medizinische Hilfe benötigen, auch Hilfe bekommen.
- Ich zahle meine Beiträge gerne ein, möchte aber dass für mich so wenig wie möglich davon ausgegeben wird, weil ich gesund bleiben möchte und an sich nur Vorsorgeuntersuchungen in Anspruch nehmen möchte.
- Ich nehme an, dass die allermeisten Menschen so denken und dass wir alle unser Geld von den Krankenkassen gut verwaltet sehen wollen.
- Bei aller berechtigten und stets konstruktiven Kritik am österreichischen Gesundheitssystem – ich möchte das System verbessert wissen – habe ich großes Vertrauen in unsere Krankenkassen.
Die Vorzüge eines Kassenvertrages.
Die Vorzüge eines Vertrages mit den verschiedenen Krankenversicherungsträgern in Österreich – kurz Kassenvertrag – liegen klar auf der Hand: In Österreich besteht eine gesetzliche Krankenversicherungspflicht, wodurch 99,9% der österreichischen Bevölkerung krankenversichert sind.
Grundsätzlich können die Krankenversicherten so sehr niederschwellig mit der e-card ärztliche Kassenleistungen in Anspruch nehmen, womit ein gewisses Patienten/innen-Aufkommen gegeben ist und damit auch ein sicheres Einkommen für Vertragspartner mit der Krankenkasse, kurz Kassenärzte bzw. Kassenärztinnen einhergeht.
Die wesentliche Frage, die sich die Verantwortlichen zu stellen haben, ist, warum sich dennoch viele Ärztinnen und Ärzte gegen einen Kassenvertrag entscheiden?
Warum ein Kassenvertrag in manchen medizinischen Fächern dermaßen unattraktiv scheint, dass sich weit und breit niemand mehr für Kassenplanstellen zu finden scheint?
Der völlig überstrapazierte Begriff einer unausgeglichenen Work-Life-Balance kann dies nicht erklären.
Viel mehr wirkt der Begriff Work-Life-Balance vorgeschoben, um sich tatsächlichen großen strukturellen Problemen des österreichischen Gesundheitssystems nicht stellen zu müssen und eine so wichtige Diskussion darüber im Keim zu ersticken, bevor diese überhaupt begonnen hat.
Kassenvertrag: Ja oder Nein? Das ist hier die Frage.
Wie viele andere erkundigte ich mich im Vorfeld auch über die Möglichkeiten als Kassenarzt für Neurologie zu arbeiten. Da ich in meiner Praxis so arbeiten wollte, wie ich dies in meiner Ausbildung zum Facharzt für Neurologie immer gelernt hatte, musste ich aber letztendlich meine Privatordination eröffnen.
Ich wollte nicht – wie mir einst von einer Chefärztin einer österreichischen Krankenkasse gesagt worden ist – „zwischen fünf und zehn Patienten/innen pro Stunde durchschleusen“ (O-Ton).
Das würde bedeuten, dass ich pro Patient/in zwischen sechs und zwölf Minuten Zeit hätte,
- eine ausführliche Vorgeschichte (=Anamnese) zu erheben,
- die klinisch-neurologische Untersuchung (=neurologischer Status) zu machen,
- meine klinisch-neurologische Beurteilung ausführlich zu erklären,
- über das weitere Prozedere und insbesondere
- über Zusatzuntersuchungen und
- über Wirkung, Nebenwirkungen und Risiken von Medikamenten
umfassend aufzuklären etc.
Wesentlicher Eckpfeiler jeder erfolgreichen Therapie sind die richtige Diagnose und die Aufklärung darüber.
Nur wenn Patienten/innen die Diagnose und auch die Therapie verstehen, machen sie mit (und können auch – sperrig formuliert – ihre gesetzlich geforderte Mitwirkungspflicht aus freien Stücken erfüllen).
Ich frage mich seit Jahren, wie das seriös funktionieren soll?
Viele meiner neurologischen Patienten/innen brauchen bereits länger als die kolportierten sechs und zwölf Minuten pro Untersuchung, um sich zu entkleiden oder entkleidet zu werden und auf der Untersuchungsliege Platz zu nehmen oder auf die Untersuchungsliege gehievt zu werden.
Beinharte Klinische Medizin.
Die mindestens 45 bis 60 Minuten, die ich pro Konsultation für meine Patienten/innen benötige, haben nichts mit sogenannter Zuwendungsmedizin zu tun, sondern dienen ausschließlich der richtigen Diagnosestellung und Aufklärung. Wir müssen unsere Patienten/innen angreifen, um sie zu begreifen. Telemedizin wird eine klinische Untersuchung nie ersetzen können, oder soll ich die Pupillenreaktion über den Bildschirm testen und mit meinem Reflexhammer auf die Tastatur hämmern und auf den Ausschlag des Arms oder Beins des „telemedizinisch Untersuchten“ warten?
Klinische Diagnostik benötigt Zeit: nicht um zu tratschen und Patienten/innen zu verhätscheln, sondern um wertvolle medizinische Informationen zu bekommen.
Klinische Medizin ist höflich, bestimmt und Ergebnisorientiert und darf nicht als Zuwendungsmedizin verunglimpft werden.
Die 45 bis 60 Minuten, die ich für eine Konsultation vorsehe, sind zwar ausreichend, aber nicht zu großzügig bemessen. Die Dokumentation – das Schreiben eines Arztbriefes, das Ausstellen von Zuweisungen, von Rezepten und von Verordnungen – geschehen ohnehin im Nachhinein.
Selbst die Honorarverordnung bzw. Honorarkatalog sieht – entgegen den von der Chefärztin kolportierten 5 bis 6 Minuten Untersuchungszeit pro Patienten/in – vor, dass die klinisch-neurologische Untersuchung – der neurologische Status – natürlich vollständig durchgeführt werden muss.
Der Richtwert für den zeitlichen Umfang eines „üblichen Neurostatus“ beträgt mindestens 20 Minuten. Dreißig Minuten sind „bei einer über den üblichen Neurostatus hinausgehenden Prüfung der Oberflächensensibilität, der Tiefensensibilität, des Schmerzsinnes, des Temperatursinnes, der Vibrationsempfindung, inklusive Dokumentation oder Anlage eines Schemas“ vorgesehen.
Ein kurzes Drehen und Bewegen der Hände und drei Mal mit dem Reflexhammer auf die Ellbeugen zu schlagen, dauert zwar nur wenige Sekunden, hat nichts, aber auch gar nichts mit einem neurologischen Status zu tun. Das hat nichts mit Neurologie, das hat nicht mit Medizin zu tun.
Zudem sind weder die Anamnese, die abschließende fachärztliche Beurteilung noch die Aufklärung (und deren Dokumentation) in diesen Honorarpositionen enthalten.
Eine Patientin erzählte mir, dass sie weniger als 20 Euro von ihrer Krankenkasse für ihre Konsultation bei mir rückerstattet bekommen hatte…
- Ich rechne nach und verstehe nicht, wie ich so mit den Kassentarifen kostendeckend arbeiten kann?
- Ich verstehe nicht, wie wenig meine ärztliche – klinisch-neurologische – Leistung für die Krankenkassen wert zu sein scheint?
- Wie wenig meine erbrachte ärztliche Leistung für die Krankenkassen wert zu sein scheint, ist unter anderem an den zum Teil lächerlich geringen Rückvergütungen von ein paar wenigen Euro erkennbar,
ersetzt doch der Krankenversicherungsträger von den Behandlungskosten 80 Prozent jenes Betrages, den ein/e Kassenarzt/-ärztin für die gleiche Behandlung bekommen würde?
weniger als 20 Euro Euro sind 80% jenes Betrages, den ein/e Kassenarzt/-ärztin für die gleiche Behandlung bekommen hätte.
um die 20 Euro sind demnach 100% jenes Betrages, den ein/e Kassenarzt/-ärztin für die gleiche Behandlung bekommen hätte.
weniger als 20 Euro für ausgewiesene mehr als 2 Stunden Arbeit.
weniger als 20 Euro für eine ausführliche Anamnese, klinisch-neurologische Untersuchung, Bildbegutachtung und Aufklärungsgespräch von mehr als einer Stunde Dauer,
einen ausführlichen Arztbrief, mit Zuweisungen und Rezepten, Porto und anschließende Emailkorrespondenz.
- Selbst die Raummiete in meiner Ordination wäre mit einem solchen Tarif nicht abgedeckt.
Ich würde die Verantwortlichen bitten nachzurechnen und bitten am Honorarkatalog anzusetzen, um das gesamte System von Grund auf neu zu gestalten.
Wir alle – Ärzte und Ärztinnen und Patienten und Patientinnen – wollen unser gut bewährtes österreichisches Gesundheitssystem nicht zu erhalten, sondern auch effizient verbessert wissen.
Wir alle – Ärzte und Ärztinnen und Patienten und Patientinnen – wollen Medizin und wollen unser Geld für Medizin auch effizient verwendet sehen.
Für Rückfragen und konstruktive Diskussionen stehe ich zur Verfügung.
Ihr
Fahmy Aboulenein-Djamshidian
Facharzt für Neurologie
Es ist nicht wichtig,
wer bewirkt,
sondern dass bewirkt wird.