Eminenz-basiert versus Evidenz-basiert
„Eminenz-basiert versus Evidenz-basiert“
Medizinrecht
Vor kurzem fand ich auf der Suche meine beiden Seminararbeiten, die ich vor ein paar Jahren an der Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Wien geschrieben habe (siehe auch den Blogbeitrag „Überschriften“ vom 17.12.2023).
Ich konnte mit dieser zweiten Arbeit, meine Diplomarbeit bzw. das Diplomarbeit-Modul abschließen (§81 UG – Universitätsgesetz).
Ja, ich studierte vor Jahren Rechtswissenschaften – aus einem immer währendem tiefem Interesse für das Recht und die Rechtswissenschaften heraus. Ich habe dieses Studium zwar nie abgeschlossen, aber mein eigentliches Ziel erreicht, das ich mit dem Studium eigentlich verfolgt habe: Nämlich den Wahlfachkorb Medizinrecht zu belegen und abzuschließen.
Wie ich bereits zuletzt geschrieben habe:
„Ich bin überzeugt, dass ich ohnehin kein guter Jurist geworden wäre.
So sehr mich die juristische Welt fasziniert und interessiert, so fern ist mir diese. Ich könnte nie so urteilen, nie so klagen oder anklagen und nie so verteidigen, wie dies von Richtern:innen, Staatsanwälten:innen und Rechtsanwälten:innen erwartet wird.
Ich glaube nicht, meine Voreingenommenheit und Urteil so ausschalten zu können, wie dies in einer unvoreingenommenen, neutralen Justiz – dem Fundament unseres Rechtsstaates – notwendig ist.
Medizinrecht ist nur ein Überschneidungsbereich mit der Medizin, meinem Brotberuf.“
Ich möchte hier ergänzen: Die Arbeit als Arzt ist für mich sehr viel leichter. Ich brauche nur Diagnosen zu stellen und zu behandeln. Ich muss nur sagen, wie etwas nach dem derzeitigen Stand der medizinischen Lehre und Wissenschaft – der Medizin – ist und brauche nicht zu werten. Nein, ich darf – wir Ärzte und Ärztinnen dürfen – nicht werten.
Das Recht und Gesetz geben die Rahmenbedingungen vor. Die Medizin gestaltet diese aus.
Über die juristische Präzisierung der Wahrscheinlichkeit – am Beispiel der Gefährdungsbeurteilung nach § 3 UbG
oder kurz:
Minority Report
Minority Report ist der Titel einer Kurzgeschichte des US-amerikanischen Science-Fiction Autors Philip K. Dick. Die Kurzgeschichte Minority Report wurde 2002 auch verfilmt.
Kurz: Philip K. Dick beschäftigte sich in Minority Report mit der Frage, ob Verbechen verhindert werden können, bevor sie überhaupt verübt werden können, das heißt konkret wenn die Verbrecher bereits vor Verüben ihrer Tat ausgeschaltet werden könnten?
Dieses Gedankenexperiment wird durch solche Prekogs – Menschen mit telepathischen Fähigkeiten möglich, die Verbrechen ex ante sehen können, bevor sie verübt werden.
Die Kernfragen sind und bleiben trotzdem, wie zuverlässig solche Prognosen überhaupt sein können und welchen Störfaktoren solche Faktoren unterliegen und zu einem falschen Ergebnis führen können? Wie valide sind solche Prognosen und welche Maßnahmen dürfen daraus abgeleitet werden?
Ähnlich wie mein Diplomarbeitsthema…
mein Thema
Um die erweiterte Ausbildung Medizinrecht abschließen zu können, musste ich zwei wissenschaftliche Arbeiten schreiben. Der Rahmen der Themen war vorgegeben.
Wie bei der ersten Arbeit auch, durfte ich erstmals letzter von den Studentinnen und Studenten eines der vorgegebenen Themen auswählen. Eigentlich wurden mir jene Themen zugeteilt, die übrig geblieben waren, die niemand wollte.
Dies schien nicht zufällig so: Einerseits war ich deutlich älter als die anderen Studierenden, andererseits hatte ich bereits viele Jahre zuvor mein Medizinstudium beendet und war schon lange als Arzt und in der Wissenschaft tätig, weswegen eine gewisse Erfahrung vermutet werden durfte.
Wie auch immer, jedes Thema musste bearbeitet werden können. Aufgaben zu meistern, egal wie man darüber denkt. Und es kommt ohnehin immer anders, als man denkt…
*
Mein zweites Thema handelte über die Gefährdungsbeurteilung nach § 3 UbG – dem Unterbringungsgesetz. Das Unterbringungsgesetz stammte aus der Feder meines Diplomarbeitbetreuers Univ. Prof. DDr. Kopetzki.
Die sogenannte Unterbringung sei kurz erklärt:
Menschen dürfen nur nach dem Unterbringungsgesetz untergebracht werden, das heißt gegen ihren Willen festgehalten und therapiert werden, wenn sie sich aufgrund einer psychischen Erkrankung oder Störung selbstgefährden oder andere Personen gefährden und solange diese Selbst- oder Fremdgefährung besteht.
Das Unterbringungsgesetz war mir auch zuvor nicht unbekannt. Ich hatte bereits Jahre damit gearbeitet bzw. mich gerade in meinem Jahr auf der Psychiatrie damit intensiv auseinandergesetzt und als Arzt zahlreiche Unterbringungsverhandlungen auf der Psychiatrie geführt.
So wie ich dies von der Medizin und meinen wissenschaftlichen medizinischen Arbeiten ohnehin gewohnt war, setzte ich mich nun mit diesem Thema wissenschaftlich auseinander.
***
Der zweiten Arbeit gab ich den Titel „Über die juristische Präzisierung der Wahrscheinlichkeit – am Beispiel der Gefährdungsbeurteilung nach § 3 UbG.„.
Ich selbst hätte eigentlich den Titel „Eminenz-basierte vs. Evidenz-basiert“ in Anlehnung an eine seit Jahrzehnten geführte wichtige Diskussion in der Medizin favorisiert…
Ihr
fahmy.blog
P.S. Falls Sie die Arbeit als PDF haben möchten, können Sie mich gerne über das Kontaktformular kontaktieren oder mir gerne eine Email schreiben.
Das Foto: Juridicum, (c) 2023, fahmy.blog
Die Arbeit, 27.01.2016:
Über die juristische Präzisierung der Wahrscheinlichkeit – am Beispiel der Gefährdungsbeurteilung nach § 3 UbG.
Inhaltsverzeichnis
Geschlechterneutrale Formulierung
Sehr bewusst habe ich versucht, beide Geschlechter sprachlich abzubilden. Aus diesem Grund habe ich auf die zumeist verwendete – ›sogenannte‹ geschlechterneutrale maskuline Form -, aber auch auf andere umstrittene Stilmittel bewusst verzichtet. Diese wirken meines Erachtens ohnehin nur wie eine unausgegorene Notlösung, ›krampfhaft aufgepfropft‹ und stören zumeist nur den Lesefluss, womit sie verständlicherweise auch auf wenig Akzeptanz stoßen.
Ich meine Stilmittel wie:
(1) das strikte Anführen der männlichen und weiblichen Form,
(2) Schrägstrich,
(3) das innen-I,
(4) die Lexem-Unterscheidung,
(5) die Hyperkorrektur,
(6) die Hyper-Parallelisierung und
(7) das strikte alternierende Verwenden der grammatikalisch männlichen und weiblichen Form.
Die besagten Stilmittel schöpfen meines Erachtens ihre Berechtigung aber aus ihrer polarisierenden Eigenschaft, mit der sie zur breiten gesellschaftlichen Diskussion anstoßen. Leider erzielen sie nur selten die weitreichende, allgemeine Akzeptanz bei Männern, aber auch bei Frauen, die sich ihre Befürworter so sehr wünschen.
Sehr oft ist das Gegenteil der Fall. Diese Stilmittel führen zu breiter Ablehnung und dies bei beiderlei Geschlecht. Die Gründe hierfür sind nur allzu offensichtlich und sind meines Erachtens nicht nur im stark beeinträchtigten Lesefluss zu suchen:
Die Sprache ist Ausdruck menschlichen Bewusstseins, Gedanken und Ausdruck fortentwickelter, individueller menschlicher Identität und Persönlichkeit. Die Sprache ist untrennbar mit jedem Menschen verbunden und seit Geburt ›in sich‹ und mit der Umwelt gewachsen.
Wir haben uns an unsere Sprache ›gewöhnt‹, wir sind mit und durch unsere Sprache und sind natürlich – wie in uns selbst – auch in unsere Sprache natürlich ›ein wenig verliebt‹. Die eigene Sprache nicht zu mögen würde psychoanalytisch bedeuten, sich selbst nicht zu mögen.
Sprachlich Ungewohntes trifft grundsätzlich auf Argwohn und wenig Akzeptanz, weswegen sprachliche Änderungen sehr behutsam vorgenommen werden müssen, um in ›unsere‹ alltäglich verwendete Sprache einfließen zu können. Die Sprache ändert sich ohnehin permanent, weil sich alles andere ändert: Menschen, Ansichten und die Gesellschaft.
Ein behutsamer sprachlicher Umgang miteinander spiegelt einen wertschätzenden Umgang der Menschen miteinander wider.
Umso mehr habe ich versucht, den Text dieser Arbeit so zu gestalten, dass sich Frauen als auch Männer gleichermaßen abgebildet sehen, ohne auf die umstrittenen Stilmittel zurückzugreifen. Vielleicht gelingt es erst dadurch ›tatsächlich‹ geschlechtsneutral zu formulieren, ohne ein Geschlecht zu ›bevorzugen‹ und den Lesefluss zu stören.
›Tatsächlich‹ geschlechtsneutral bzw. gendersensibel zu formulieren, mag vielleicht ungewöhnlich sein und ist an manchen Textstellen sehr schwierig umzusetzen.
In den einzelnen Passagen, wo es mir nicht möglich war, habe ich direkt beiderlei Geschlecht angesprochen, um die Sprache und Schrift nicht zu verbiegen oder brechen. Aus diesem Grund spreche ich gemeinhin von psychiatrisch Kranken bzw Erkrankten oder von Angehörten, Betroffenen, Beteiligten oder Dritten, womit sich Frauen und Männer gleichermaßen abgebildet sehen müssten.
Ich spreche/schreibe nur in einigen wenigen Passagen sehr bewusst von ›dem Gericht‹ aber auch von ›Richterinnen‹ und ›Richtern‹ und ›Ärztinnen‹ und ›Ärzten‹ geschrieben, weil ich sie eben alle meinte und ansprechen wollte und dadurch den Lesefluss auch nicht beeinträchtigt sehe.
***
» Es zeichnet einen gebildeten Geist aus,
sich mit jenem Grad an Genauigkeit zufrieden zu geben,
den die Natur der Dinge zulässt,
und nicht dort Exaktheit zu suchen,
wo nur Annäherung möglich ist.«
(Aristotheles)
***
1 Einleitung.
Psychiatrisch erkrankte Menschen gegen ihren Willen anzuhalten und zu behandeln, ist mit Sicherheit ein prekärer, aber für die alltägliche Praxis unbestritten ein relevanter Überschneidungsbereich von Recht und Medizin. Ein Anhalten der Betroffenen und eine Behandlung wider Willen sind Akte staatlich-hoheitlicher Zwangsgewalt.
Akte staatlich-hoheitlicher Zwangsgewalt müssen bestimmte gesetzliche Bedingungen erfüllen und unterliegen entsprechenden Kontrollmechanismen, um
(a) als gerechtfertigt angesehen werden zu können, um
(b) nicht mit dem Recht auf persönliche Freiheit gem Art 5 EMRK,
(c) dem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gem Art 8 EMRK und
(d) dem Verbot unmenschlicher und erniedrigender Behandlung gem Art 3 EMRK zu kollidieren, und um rechtsstaatlichen Ansprüchen zu genügen [1],[2],[3].
Insbesondere muss der Vorwurf eines ›simplen Wegsperrens und Ruhigstellens von ein paar Ver-rückten[4], die sich oder andere gefährden können‹, entkräftet werden. Hierbei ginge es va ums ›können‹, dh es geht um die Frage ieS wie das Potential und die Wahrscheinlichkeit, dass ein bestimmter Schaden auch tatsächlich eintrete, in der Praxis objektiviert werden kann.
Mit mehr als 20000 stationären Aufenthalten ohne eigenem Verlangen (AOEV) pro Jahr in Österreich zeigt sich auch die quantitative Tragweite und die oben postulierte Relevanz der Problematik. Mehr als 20000 AEOV entsprechen in etwa einem Anteil von ca. 20 bis 30% aller psychiatrisch-stationären Aufnahmen pro Jahr in Österreich[5].
Die EMRK und die verfassungsrechtlich-gewährleisteten Rechte bedürfen selbstverständlich nicht erst eines quantitativen Schwellenwerts, dh es muss nicht erst eine bestimmte Anzahl an Individuen in ihren Grundrechte verletzt werden, damit die Verletzung dieser Rechte auch verfolgt würde. Sie sind für alle Menschen gleichermaßen und ohne Einschränkung gültig und durchsetzbar.
Nur zu offensichtlich konkurrieren und kollidieren iF eines AOEV die persönlichen Rechte von betroffenen psychiatrisch Erkrankten mit anderen Interessen. Die gesetzliche Einschränkung und Eingriffe in die Grundrechte suchen ihre Rechtfertigung in gesetzlichen Erfordernissen, die unbedingt erfüllt sein müssen, um die an sich unerlaubte Einschränkung und Eingriff in die Grundrechte im konkreten Einzelfall eben rechtfertigen und sohin erlauben zu können[6],[7],[8],[9].
In jedem einzelnen AOEV müssen entsprechende Rechtfertigungsgründe aus dem Sachverhalt vorhanden sein, um zu der vom Gesetzgeber geforderten ›ernstlich und erheblichen Gefährdung‹ gem UbG subsumiert werden zu können.
Ob eine gesetzlich zulässige, weil gesetzlich gerechtfertigte Beschränkung der persönlichen Grundrechte aufgrund einer vermuteten Gefährdung aber jemals auch ethisch-moralisch überhaupt gerechtfertigt werden kann, wenn weder das Gefährdungspotential noch die Wahrscheinlichkeit einer potentiellen ›ernstlich und erheblichen Gefährdung‹ objektiviert werden können bzw die Kriterien der Gefährdungsbeurteilung an sich nicht objektivierbar sind, darf getrost bezweifelt werden[10].
Kern der richterlichen Entscheidung im Unterbringungsverfahren ist die Gefährdungsbeurteilung, die sich anders als so viele andere Daten in der Medizin iW auf die Einschätzung weniger einzelner Personen stützt. Letzten Endes entscheidet nur eine einzige Person, nämlich eine einzelne Richterin bzw ein einzelner Richter.
Genau in diesem Punkt greifen Medizin und Recht ineinander über und lassen die Grenzen zwischen den tatsächlich Entscheidenden und die die Gesetze Auslegenden verschwimmen, da idR die ärztliche Einschätzung u/o der Sachverständigenbeweis[11],[12] die richterliche Entscheidung, ob eine Unterbringung gem UbG als zulässig zu erklären ist oder nicht, maßgeblich beeinflussen und vielleicht sogar bestimmen werden.
Die Entscheidung fällt aber das Gericht, dh idR die einzelne Richterin bzw der einzelne Richter.
Rechtsstaatlich und rechtsphilosophisch stellen sich in diesem Zusammenhang nach Ansicht des Autors der vorliegenden Arbeit mehrere Fragen, nämlich:
(1) auf welchen Fakten eine Gefährdungsbeurteilung beruht,
(2) ob die Gefährdungsbeurteilung klinisch-medizinisch und standardisierten wissenschaftlichen Ansprüchen genügt bzw überhaupt in der Lage sein kann zu genügen, und
(3) ob die richterliche Entscheidung in den meisten Fällen überhaupt objektivierbar sein kann oder
(4) ob das UbG nur in seinem Anschein nach an objektive Kriterien anknüpft, der Gesetzgeber aber die konkrete Ausgestaltung in Wirklichkeit dem gerichtlichen Alltag überlässt.
Wenn dem nämlich so sei, würde der Gesetzgeber somit – sehr provokant formuliert – auch der Defensivmedizin Vorschub leisten und hierfür nur dem äußeren Anschein nach gerechtfertigte Eingriffe in die persönliche Freiheit psychiatrisch Erkrankter nicht nur zulassen, sondern auch zumindest indirekt, aktiv fördern[13], wenn die Unterbringung gem UbG in der Praxis eine ›großzügige‹ bzw sogar ›zu großzügige‹ Anwendung finden würde, wie eine berechtigte Kritik lauten könnte und die es auszuräumen gelte.
Mehr als 20000 AOEV pro Jahr absolut und zwischen 20 und 30% der AOEV relativ haben mE bis das Gegenteil bewiesen ist auch entsprechende Indiz-Wirkung für eine Defensivmedizin bzw ›Defensiv-Jurisdiktion[14]‹, soll doch die Unterbringung gem UbG doch ausschließlich subsidiär und ultima ratio sein.
Mehr als 20000 AEOV pro Jahr und 8 Millionen Einwohnern sollen und müssen kritisch hinterfragen lassen, ob in jedem einzelnen Fall die Unterbringung tatsächlich die allerletzte und medizinische Möglichkeit war, ist und auch pro futuro sein wird.
Natürlich wäre es denkbar, dass die Unterbringungsmaßnahmen auch iS eines ›gewissen‹ Sicherheitsdenkens ›großzügig‹ Anwendung finden würden, nur weil sich niemand der am Verfahren Beteiligten retrospektiv nachsagen lassen möchte, das Gefährdungspotential psychiatrisch Kranker ex ante falsch beurteilt zu haben.
Niemand möchte vielleicht auch von Außenstehenden oder sogar vom Boulevard als ›Sündenbock der Nation gebrandmarkt‹ werden, insbesondere wenn unbeteiligte Dritte von psychiatrisch Kranken ›ernstlich und erheblich‹ verletzt oder getötet worden sind, und dies angeblich nur weil die Notwendigkeit eines AOEV verkannt worden sei und die Unterbringung für nicht zulässig erklärt worden ist (siehe beispielsweise [15],[16])[17].
[1] EGMR 24.10.1979, 6301/73, Winterwerp/Niederlande.
[2] EGMR 22.1.2013, 35.939/10, Mihailovs/Lettland.
[3] Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) BGBl Nr 1/1930 idF BGBl I Nr 194/1999 idf BGbl I Nr 102/2014.
[4] Der von Eugen Bleuler begründete und geprägte Begriff des ›Ver-rücktseins‹ wird hier sehr bewusst eingesetzt. Bleuler beschrieb damit, das ›aus der Realität ver-rückt sein‹.
Der Begriff in der von Bleuler ursprünglich geprägten und verstandenen Bedeutung beinhaltet keine Wertung oder gar Abwertung oder Entwertung.
Er mochte seine Patientinnen und Patienten, mit denen er gemeinsam in einer entlegenen Anstalt ›Burghölzli‹ in der Schweiz lebte, diese behandelte und studierte, und seine Beobachtungen akribisch niederschrieb und die moderne Psychiatrie wesentlich formte und mitbegründete. Die Schizophrenie ist nach ihm als ›Morbus Bleuler‹ benannt.
[5] Ladurner/Sagerschnig/Nowotny, Unterbringungen gemäß UbG in der Praxis, in Gesundheit Österreich Gmbh (Hrsg), Analyse der Unterbringungen nach UbG in Österreich: Berichtsjahre 2012/13 (2015) 19.
[6] EGMR 24.10.1979, 6301/73, Winterwerp/Niederlande.
[7] EGMR 22.1.2013, 35.939/10, Mihailovs/Lettland.
[8] EGMR 2.10.2012, 41.242/08, Pleso/Ungarn.
[9] Bundesgesetz vom 1. März 1990 über die Unterbringung psychisch Kranker in Krankenanstalten (Unterbringungsgesetz – UbG) BGBl. Nr. 155/1990 idF BGBl. I Nr. 18/2010.
[10] Beachte, nicht die Gefährdungsbeurteilung wird als ›nicht objektiv‹, sondern die Kriterien der Gefährdungsbeurteilung als ›nicht objektivierbar‹ bezeichnet bzw. kritisch hinterfragt.
[11] RV 464 BlgNR 27.GP 14.
[12] EGMR 24.10.1979, 6301/73, Winterwerp/Niederlande.
[13] In den Jahren 2005/2006 war der Autor selbst als Arzt in zahlreichen Unterbringungsverfahren als Vertretung des Abteilungsvorstands einer psychiatrischen Abteilung beteiligt, womit nur gesagt sein soll, dass er die Problematik aus zwei Perspektiven beleuchten kann.
Nach der Erfahrung des Autors ist die Möglichkeit psychiatrisch Kranke wie vom Gesetzgeber subsidiär als ultima ratio unterbringen zu können, notwendig und nicht schlechtzureden.
Nichtsdestotrotz muss die hohe Zahl an AOEV kritisch sowohl von der Medizin als auch vom Recht hinterfragt werden. Und genau dies würde eben eine intensive und kontroverse Grundsatzdiskussion und vielschichtige Auseinandersetzung mit der Thematik notwendig machen und erfordern.
[14] In Analogie zum allgemein bekannten und vielfach sehr kontrovers diskutierten Begriff der Defensivmedizin erlaubt sich der Autor den Begriff der Begriff der ›Defensiv-Jurisdiktion‹ zu kreieren und zur Diskussion zu stellen.
[15] Windmann, Der verlorene Sohn. Der Spiegel 2008, 42.
[16] Windmann, „Der verlorene Sohn.“ http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-99311763.html (abgefragt am 18.01.2016).
[17] Hierbei kommt den Gutachtern bzw (gerichtlich beeideten) Sachverständigen eine bedeutende Rolle und Verantwortung zu, ist es doch sehr schwierig, einen so ›lebendigen‹ Sachverhalt aus einer Krankengeschichte und anderer Protokollen und Dokumentation – seien diese alle noch so vollständig und umfassend – im Nachhinein ›lebensecht‹ oder zumindest ›lebensnahe‹ zu rekonstruieren und daraus eine richtige EX ANTE Beurteilung zu machen.
2 Das Unterbringungsverfahren.
Dass der Eingriff und die Einschränkung in die Grundrechte psychiatrisch Kranker eine gesetzliche Grundlage bedürfen, steht außer Streit. Das Unterbringungsgesetz (UbG) ist nur die logische Konsequenz. Seit seiner Entstehung und ordentlichen Kundmachung wird das UbG ständig und insbesondere durch die Rsp fortentwickelt.
2.1 Der Wortlaut des §3 UbG.
Die Unterbringung gem UbG ist ultima ratio in der medizinischen Behandlung psychiatrisch Erkrankter. Dh der AOEV und die idR auch damit verbundene medikamentöse Behandlung wider Willen werden medizinisch indiziert und ihre Zulässigkeit von den unabhängigen Gerichten kontrolliert. Die Erfordernisse sind vom Gesetzgeber mehr oder weniger eindeutig vorgegeben.
So darf gem §3 UbG »in einer psychiatrischen Abteilung schließlich nur untergebracht werden, wer
1. an einer psychischen Krankheit leidet und im Zusammenhang damit sein Leben oder seine Gesundheit oder das Leben oder die Gesundheit anderer ernstlich und erheblich gefährdet und
2. nicht in anderer Weise, insbesondere außerhalb einer psychiatrischen Abteilung, ausreichend ärztlich behandelt oder betreut werden kann.«
Daraus folgt, dass eine psychiatrisch-medizinische Behandlung der jeweilig psychiatrisch Kranken unbedingt erforderlich sein muss, die Gefährdung ›ernstlich und erheblich‹ sein soll und ›direkt aus der psychiatrischen Erkrankung drohen muss‹ und ›der Schadenseintritt in hohem Ausmaß an Wahrscheinlichkeit gegeben sein soll‹[18],[19],[20] und va nur mehr durch die Unterbringung selbst subsidiär, dh als ultima ratio, sein muss[21],[22].
Alternative und va auch gelindere Mittel dürfen nicht existieren bzw dürfen etwaige gelindere Mittel und Maßnahmen Betroffenen nicht aus Kosten-, Praktikabilitätsgründen oder anderen Gründen verwehrt werden, sondern diese müssen entsprechend bereitgestellt bzw ausgeschöpft werden und auch langfristig für ihre Verfügbarkeit gesorgt werden.
Kurzum, es darf keine Alternative zum AEOV geben, um den Eingriff und die Einschränkung der persönlichen Rechte der psychiatrisch Kranken überhaupt rechtfertigen zu können und die Unterbringung für zulässig erklären zu können. Eine, vielleicht hie und da aus medizinischen oder sozialen Gründen verständliche, krankenfürsorgliche Unterbringung ist vom Gesetzgeber dezidiert nicht erwünscht, und demnach insbesondere vom Gesetz nicht intendiert oder gar gebilligt[23].
Auch der Begriff der psychiatrischen Erkrankung ist im Gesetz eng umschrieben und klar definiert. Obgleich die Konkretisierung des Begriffs gemeinhin der Medizin vorbehalten bleiben wird, ist der Begriff der psychiatrischen Erkrankung nicht durch andere Termini wie zB ›gleichwertige psychische Störungen‹ zu erweitern und dadurch die Aufnahmevoraussetzungen begrifflich aufzuweichen[24],[25].
IdS ist auch die ›Gefährdung von Sachwerten im größeren Ausmaß‹ für die Gefährdungsbeurteilung gem §3 UbG ohne Belang, umfasst der Gefährdungsbegriff des leg cit doch ausschließlich Schäden an der körperlichen Unversehrtheit, Gesundheit und Leben der (angehörten) psychiatrisch Erkrankten u/o Dritter.
Es wäre demnach belanglos, wenn beispielsweise ein paranoid schizophrener Patient seine eigene Wohnung verwüstet, Wände und Böden mit seinen Exkrementen beschmiert und meterhohe Skulpturen aus Kot fertigt, kurzum seine Wohnung in einen Übelstand versetzt, auch wenn Dritte durch unangenehme Gerüche vielleicht belästigt, aber sicher nicht in ihrer Gesundheit gefährdet würden.
Ein Übelstand kann mit Sicherheit unangenehm, vielleicht auch je nach individuellem Empfinden abstoßend und unappetitlich sein, aber ist in den meisten Fällen sicher nicht iS des §3 UbG gefährlich[26],[27],[28]. Dem ist durch andere rechtliche Mittel Abhilfe zu schaffen und »der Kranke nicht einfach aus seiner Wohnung zu entfernen« und plakativ formuliert, »wegzusperren«.
Gleiches gilt für die ›bloße Behandlungsbedürftigkeit‹ und ›Verwahrlosungstendenzen‹[29], die ohne ›ernstlich und erhebliche‹ Selbst- oder Fremdgefährdung einhergehen, da die Unterbringung auch keine ›Maßnahme der Fürsorge‹ ist[30],[31],[32].
Zudem muss gem §3 UbG der Schaden direkt aus der psychiatrischen Erkrankung resultieren und ›ernstlich und erheblich‹ sein, dh der vermutete Schaden würde in ›hohem Ausmaß an Wahrscheinlichkeit‹ auch eintreten, wenn die Betroffenen eben nicht untergebracht würden[33].
Die ›bloß vage Möglichkeit‹ einer Gefahrenabwehr, die die Unversehrtheit und das Leben der Betroffenen und Dritter vorsorglich schützen soll, wäre nicht ausreichend und ist sohin gesetzeswidrig[34],[35].
Im Größenschluss wird eine nicht bestimmbare bzw unbestimmte Wahrscheinlichkeit für einen AOEV ebenfalls nicht ausreichend sein[36], woraus sich für die Praxis ergibt, dass ein Wahrscheinlichkeitsgrad anzugeben sein wird und dass die potentielle Gefährdung, die in ›hohem Ausmaß an Wahrscheinlichkeit‹ verwirklicht zu werden droht, auch benannt, dh konkretisiert und begründet werden muss.
2.2 Die Auslegung des §3 UbG in der Praxis.
Die Rsp hat den Wahrscheinlichkeitsbegriff des UbG bereits in mehreren Punkten differenziert.
So genüge »[…] bei besonders schwerwiegenden Folgen bereits eine geringere Wahrscheinlichkeit. […]«[37], oder »[…] die Gefährdung muss sich nicht bereits realisiert haben, sondern es reicht aus, wenn nach der Lebenserfahrung krankheitsbedingte Verhaltensweisen zur Gefährdung von Leben und Gesundheit führen […]«[38] bzw stünden »[…] die beiden Kriterien in einer Wechselbeziehung:
Bei besonders schwerwiegenden Folgen genügt bereits eine geringere Wahrscheinlichkeit, um die Zulässigkeit der weitergehenden Beschränkungen der Bewegungsfreiheit zu bejahen, und umgekehrt. […]«[39].
So differenziert diese höchstgerichtliche Rsp auch sein möge, so sehr würde die Rsp aber – sehr provokant formuliert – die Unterbringung aller psychiatrischen Kranken ermöglichen, wenn man dies nur wollte.
Laut höchstgerichtlicher Rsp sei demnach bei oberflächlicher Betrachtung nur mehr eine ›geringere Wahrscheinlichkeit‹ notwendig, wenn die Folgen, die erwartet würden, nur besonders schwerwiegend wären. Aus dem ›in hohem Ausmaß an Wahrscheinlichkeit‹ wurde plötzlich und unvorhergesehen eine ›geringere‹ Wahrscheinlichkeit, wenn die Folgen nun ›besonders schwerwiegend‹ seien.
Der Begriff ›besonders schwerwiegend‹ wird aber leider wie der Begriff ›geringere Wahrscheinlichkeit‹ nicht genau definiert.
Dem ursprünglichen Wortlaut des Gesetzes und den Erläuterungen des Gesetzgebers folgend ist eine Graduierung des Wahrscheinlichkeitsbegriffs aber ohnehin vorgegeben, auch wenn die Wahrscheinlichkeit nicht mit Prozentsätzen oder anderen Zahlen benannt wird.
Der Gesetzgeber gibt mit dem Begriff ›in hohem Ausmaß‹[40] eine klare Wertung, eine Art prognostische Erheblichkeitsschwelle vor, die klar sagt, dass eine Gefährdung, die ›ernstlich und erheblich‹ ist, auch ›in einem hohem Ausmaß an Wahrscheinlichkeit‹ einzutreten hat.
Darauf folgt denklogisch und sprachlich, dass eine ›besonders schwerwiegende‹ Gefährdung iGs zu einer ›nicht besonders schwerwiegenden‹ Gefährdung zwar nur mit einer relativ ›geringeren Wahrscheinlichkeit‹ auftreten müsse, wobei die ›besonders schwerwiegende‹ Gefährdung aber immer noch ›in einem hohem Ausmaß an Wahrscheinlichkeit‹ auftreten müsse, wie dies eben seitens der Legislative gefordert wird.
Kurzum, es ist kein absoluter Schwellenwert, dafür aber eine Bandbreite hoher Wahrscheinlichkeit vorgegeben und gefordert. ›Geringere Wahrscheinlichkeit‹ heißt nicht, dass die Wahrscheinlichkeit an sich gering sein darf, sondern sehr wohl in ›einem hohem Ausmaß an Wahrscheinlichkeit‹ zu erwarten sein muss.
Daraus folge aber auch weiter, dass die Gefährdung eben bestimmt werden muss bzw nicht unbestimmt sein kann und va darf. Begründungen wie ›eine ernstliche und erhebliche Gefährdung könne nicht ausgeschlossen werden‹ sind ebenfalls unbestimmt bzw setzen solche Begründungen den Schwellenwert einer möglichen Verwirklichung sehr niedrig an und sind scheinbar zumeist Ausdruck einer defensivmedizinischen Haltung[41].
Von einem strikt medizinisch-wissenschaftlichen Standpunkt aus können auch nur bestimmte faktische Gegebenheiten ›ausgeschlossen‹ werden, die meisten jedoch eben nur ›nachgewiesen‹ oder eben zur Zeit noch ›nicht nachgewiesen‹ werden.
Nicht-faktische Dinge, die vielleicht nie sein werden oder aber noch nicht sind, da sie sich erst mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit verwirklichen werden bzw verwirklichen können, können aus logischen Gründen nicht ›ausgeschlossen‹ werden.
Eine Begründung wie »besonders schwerwiegende, ernstlich und erhebliche Gefährdung könne nicht ausgeschlossen werden« ist streng wissenschaftlich gesehen eine unsachliche Behauptung bzw ein versuchtes, allzu bekanntes rhetorisches, aber unwissenschaftliches Totschlagargument;
falls es benutzt würde, dient es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nur dazu, einer Sorge bzw Befürchtung, dass eine bestimmte Gefährdung vorliege und auch eintrete, rhetorisch Nachdruck zu verhelfen, ohne konkret eine Wahrscheinlichkeit zu benennen und zur Unbestimmtheit der Gefährdungswahrscheinlichkeit – zur eigenen Annahme, Sorge oder Befürchtung – nicht genau Stellung nehmen zu müssen.
Nichtsdestotrotz findet sich auch in der Rsp kein konkreter Hinweis, wie die Wahrscheinlichkeit der potentiellen Gefährdung nun in den einzelnen Fällen tatsächlich objektiviert worden ist bzw pro futuro zu objektivieren sei. Und genau dies ist der zu klärende Punkt und nichts anderes.
Sehr oft entsteht der Eindruck, dass nur der Wortlaut des §3 UbG in den Beschlüssen zitiert wird und je nachdem, welche Instanz zuletzt zum Zuge kommt, ein Unterbringungsverfahren für zulässig oder eben für nicht zulässig erklärt wird.
Es wäre schlichtweg zu wenig »[…] nur die verba legalia wieder zu geben, ohne subsumierbare Feststellungen zu treffen. […]«[42], wie zB ein Rekursgericht folgerichtig ausführt und weiter fragte »[…] Welche konkreten Handlungen beim Kranken mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten seien, die erheblich das Leben oder die Gesundheit des Kranken oder Dritter gefährden würden […]«[28][43]. Dh, dass die Gerichte das Dilemma scheinbar erkennen, umreißen, aber nicht lösen, sondern scheinbar selbst perpetuieren[44],[45],[46].
Kurzum, um den Tatbestandselemente des §3 UbG zu erfüllen, müssen psychiatrisch Kranke aufgrund ihrer psychiatrischen Erkrankungen sich selbst oder andere ernstlich und erheblich gefährden und dürfen nicht irgendwie anders als durch die Unterbringung behandelt werden können.
Die Gefährdung muss direkt aus der psychiatrischen Erkrankung der angehörten Untergebrachten resultieren und muss auch unmittelbar drohen; dh die Gefährdung muss sich ›in einem hohem Maße an Wahrscheinlichkeit‹ verwirklichen, wenn der AOEV in der Erstanhörung bzw Unterbringungsverhandlung für unzulässig erklärt würde, die Unterbringung aufgehoben wurde und der AOEV nicht fortgeführt würde.
Die Unbestimmtheit der Norm ist durch die relative Unbestimmtheit des Wahrscheinlichkeitsbegriffs bedingt. Dieser würde in den jeweiligen Verfahren auf den jeweils vorliegenden Einzelfall konkretisiert, um den Einzelfall entsprechend würdigen zu können.
Die Beurteilung der Gefährdung basiert demnach idR auf der ›ärztlichen Meinung‹ und Expertise von Behandelnden und gerichtlichen beeideten Sachverständigen als auch durch den persönlichen Eindruck, den sich die jeweiligen Richterinnen und Richter von den psychiatrisch Kranken und der vorliegenden Krankenakte verschaffen.
Ob in sehr vielen Fällen von den mehr als 20000 AOEV pro Jahr in Österreich eine solche ›ernstliche und erhebliche‹ Gefährdung tatsächlich oder zumindest ›in hohem Maße an Wahrscheinlichkeit‹ droht verwirklicht zu werden, ist kritisch zu hinterfragen, würden doch – je nachdem, wie man ›in hohem Maße an Wahrscheinlichkeit‹ definiert – tausende oder zumindest hunderte Menschen erheblichen Schaden erleiden, weil psychiatrisch Kranke, die eigentlich untergebracht und behandelt hätten werden müssen, eben nicht untergebracht worden sind[47].
Dieser Argumentationslinie folgend würden doch psychiatrisch Kranke, kurz nachdem die Unterbringung für unzulässig erklärt und aufgehoben würde, reihenweise Suizid begehen oder Dritte durch krankheitsbedingtes gefährliches selbst- und fremdgefährdendes Verhalten (mit) in den Tod reißen. Dass dies gegebenenfalls tatsächlich so wäre, glauben mE sicher nur die wenigsten – weder Experten noch medizinische Laien, wozu streng genommen auch die entscheidenden Richterinnen und Richter zu zählen sind.
Der primäre Schutz der psychiatrisch Erkrankten, denen durch die AOEV geholfen werden soll, würde bei einer solchen Ansicht hinter ein vermutlich überzogenes[48] Sicherheitsdenken zum Schutz der allgemeinen Öffentlichkeit und insbesondere möglicher unbeteiligter Dritter gesetzt, die durch ›das gefährliche Verhalten der psychiatrisch Kranken‹ auf keinen Fall gefährdet werden dürfen.
Nichtsdestotrotz müsste ein solches Sicherheitsdenken für die rechtliche Beurteilung der Notwendigkeit eines AOEV und damit verbundenen Eingriffs in die Grundrechte psychiatrisch Kranker aber belanglos sein, insbesondere wenn die Gefährdung nur ›unbestimmt‹ oder ›vage‹[49] ist, aber immer dann, wenn die Gefährdung nicht ›in einem hohem Ausmaß an Wahrscheinlichkeit droht‹[50].
Eine polarisierende und polemisch menschenverachtende Diskussion darüber, ob die Rechte von psychiatrisch Kranken, die vielleicht nicht einmal einsichts- und urteilsfähig sind, gleich viel wägen wie die Rechte von ›Normalen – Gesunden‹, ist entbehrlich; außerdem widerspricht eine solche Ansicht allgemeinen Rechtsgrundsätzen und der österreichischen Verfassung[51].
Dies und die Unbestimmtheit des Wahrscheinlichkeitsbegriffs lassen auch keinen Umkehrschluss ableiten, nämlich dass das Recht von Dritten auf ihre eigene körperliche Unversehrtheit den Eingriff und die Einschränkung in die persönlichen Rechte psychiatrisch Kranker rechtfertigen würde[52],[53].
Wie gesagt, auch die Gefährdung Dritter muss ›in hohem Ausmaß‹ wahrscheinlich sein. Wenn dem nicht so wäre, wäre falsch verstandenem, überzogenem Sicherheitsdenken und auch Missbrauch Tür und Tor geöffnet.
So unbestimmt und vage der vom Gesetzgeber vorgegebene Wahrscheinlichkeitsbegriff auch sein mag, so sehr schiebt dieser mit dem geforderten ›hohen Ausmaß an Wahrscheinlichkeit‹ trotzdem einer vorsorglichen Gefährdungsabwehr Dritter, dh einem ›prophylaktischem Wegsperren psychiatrisch Kranker‹, einen Riegel vor und verlangt von jenen, die eine mögliche Gefährdung unbeteiligter Dritter als Totschlagargument vorschieben, die Wahrscheinlichkeit dieser behaupteten Gefährdung auch zu präzisieren.
Nichtsdestotrotz fehlt es unbestritten an genauen Vorgaben seitens des Gesetzgebers, wie der Grad der Wahrscheinlichkeit in der Praxis bestimmt werden soll.
Dies öffnet sowohl einer defensivmedizinische Haltung als auch ›Defensiv-Jurisdiktion‹ Tür und Tor, die ihrerseits wiederum stigmatisierende, falsche Vorstellungen und Ressentiments über die Gefährlichkeit psychiatrisch Kranker unreflektiert im Raum stehen lassen und so zukünftige Gefährdungsbeurteilungen auch beeinflussen können – sehr oft unbewusst und wenn bewusst, typischerweise unausgesprochen.
Insofern wäre eine zumindest vage Beschreibung wünschenswert wie sich der Gesetzgeber die Gefährdung und Wahrscheinlichkeit konkret vorstellt, um den Interpretationsspielraum einzuengen und dadurch zu versuchen, die Anwendung der Norm in der gerichtlichen Praxis zu vereinheitlichen.
[18] OGH 14.11.199, 7Ob 610/91.
[19] RV 464 BlgNR 27.GP 20.
[20] OGH 25.02.1993, 2 Ob 605/92.
[21] RV 464 BlgNR 27.GP 15.
[22] Beachte, ›sein muss‹ und nicht ›sein kann‹.
[23] RV 464 BlgNR 27.GP 20.
[24] RV 464 BlgNR 27.GP 20.
[25] Aus diesem Grund wird in der vorliegenden Arbeit sehr bewusst und strikt von ›psychiatrisch Erkrankten‹, ›psychiatrisch Kranken‹ und ›psychiatrisch Kranksein‹ gesprochen und die häufig synonym verwendeten Begriffe von ›psychisch Erkrankten‹, ›psychisch Kranken‹ und ›psychisch Kranksein‹ vermieden.
Selbst im §3 UbG ist von einer ›psychischen Krankheit‹ die Rede, deren begrifflicher Umfang in der Regierungsvorlage vom Gesetzgeber aber eben noch präzisiert wurde (zB: RV 464 BlgNR 27.GP 20).
[26] Hier muss in den allermeisten Fällen auch davon ausgegangen werden, dass keine ansteckenden infektiösen Erkrankungen oder andere Gefährdungselemente wie leicht entzündliche oder explosive Materialien den Übelstand begleiten. Dies würde durch das Gefährdungselement die Sachlage logisch und per Definition verändern.
[27] AB 1202 BlgNR 22.GP 5.
[28] OGH 05.08.2003, 7 Ob 173/03x.
[29] OGH 07.09.1994, 3 Ob 538/94.
[30] AB 1202 BlgNR 22.GP 5.
[31] OGH 14.11.199, 7Ob 610/91.
[32] EGMR 24.10.1979, 6301/73, Winterwerp/Niederlande.
[33] RV 464 BlgNR 27.GP 20.
[34] OGH 19.08.1998, 9 Ob 152/98p.
[35] EGMR, 08.07.2004, 48787/99, Ilascu und andere/Moldawien und Russland.
[36] RV 464 BlgNR 27.GP 20.
[37] OGH 19.03.2014 7 Ob 202/13a.
[38] OGH 19.08.1998 9 Ob 152/98p.
[39] OGH 23.02.2010, 4 Ob 210/09z.
[40] RV 464 BlgNR 27.GP 20.
[41] Bei der Defensivmedizin wird sehr oft das Nutzen/Risiko Profil von zahlreichen medizinischen Interventionen übersehen bzw schlichtweg ignoriert, da viele Folgeschäden durch medizinische Interventionen auch vorerst gar nicht absehbar sind bzw nach vielen Jahren erst eintreten und ein kausaler Beweis für Folgeschäden im konkreten Einzelfall nur schwer bzw gar nicht erbracht werden kann.
Denke zB an Folgeschäden durch ›pseudo-forensische Absicherungs-Computertomographien‹ des Schädels, Kontrastmittelgabe uvm.
Konkret bei der Unterbringung würde ein defensivmedizinisches Verhalten eine großzügige nur dem Anschein nach objektive, dh sachlich gerechtfertigte Unterbringung mit sich bringen.
Defensivmedizinisch deswegen, um sich nicht im Nachhinein den Vorwurf gefallen lassen zu müssen, eine Gefahr falsch eingeschätzt zu haben und nicht alle möglichen Mittel ausgeschöpft zu haben, um ›ernsten und erheblichen‹ Schaden von Menschen abzuhalten. Naturgemäß wäre dies unausgesprochen.
[42] OGH 10.12.2014, 7 Ob 157/14k.
[43] Das Rekursgericht leistete dem Rekurs eines paranoid schizophrenen untergebrachten Patienten Folge und erklärte die Unterbringung nachträglich für unzulässig, weil das Erstgericht nach Ansicht des Rekursgerichts eben nur den Wortlaut des Gesetzes wiedergab, ohne die Gefährdung zu konkretisieren. Die konkreten Anhaltspunkte müssten im Beschluss behandelt und ausgeführt sein – so die Begründung des Rekursgerichts.
Der einfache Senat des OGH teilte die Rechtsansicht des Rekursgerichts nicht und beurteilte den Revisionsrekurs des Abteilungsleiters der Psychiatrischen Abteilung für zulässig und auch berechtigt.
Der einfache Senat verstärkt nur noch einmal den Beschluss des Erstgerichts, gibt aber keine objektivierbare Begründung dafür an, warum nun eine ›massive‹ Erkrankung und Gefährdung vorläge (s. OGH 10.12.2014, 7 Ob 157/14k), sondern nur dass eine solche ›massive‹ Erkrankung nach Ansicht des OGH sehr wohl vorhanden gewesen sei.
Woraus die ›Massivität‹ der Erkrankung abgelesen bzw bestimmt wurde, bleibt offen. Es wirkt wie ein Schlagabtausch mit Worten, der einfach hierarchisch – ohne nähere medizinisch-fachliche, dh sachliche Ausführungen – entschieden wird.
[44] OGH 10.12.2014, 7 Ob 157/14k.
[45] OGH 19.03.2014 7 Ob 202/13a.
[46] OGH 3.7.2013, 7 Ob 84/13y.
[47] Ein solcher sprunghafter Anstieg der Mortalität und Morbidität psychiatrisch Kranker und Dritter würde mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von der Öffentlichkeit bemerkt und den Medien diskutiert werden.
[48] Zumindest gilt es schonungslos, aber stets neutral zu diskutieren, ob eine Gefährdung in Wahrscheinlichkeit und Potential konkretisiert und objektiviert werden kann bzw in Relation zu ›Normalen-Gesunden‹ gesetzt werden kann, die ebenfalls durch fahrlässiges, absichtliches oder wissentliches selbst- oder fremdgefährdendes Verhalten sich selbst u/o Dritte ›ernstlich und erheblich in einem hohen Ausmaß an Wahrscheinlichkeit‹ gefährden.
[49] OGH 19.08.1998 9 Ob 152/98p.
[50] RV 464 BlgNR 27.GP 20.
[51] Art 7 B-VG.
[52] EGMR 22.1.2013, 35939/10, Mihailovs/Lettland.
[53] EGMR 16.07.2015, 7997/08, Kuttner/Austria.
3 Über die Präzisierung der Wahrscheinlichkeit.
Im Prinzip ist die wesentliche Frage in der alltäglichen Gerichtspraxis, wie die Wahrscheinlichkeit einer ›ernstlichen und erheblichen‹ Gefährdung bestimmt werden kann. An dieser Präzisierung und der Begründung, dh von der sprachlichen Ausgestaltung ›hängt‹ der gesamte Einzelfall ab:
von der Erstanhörung über das Ermittlungsverfahren bis hin zur Unterbringungsverhandlung und vielleicht sogar einem etwaigen Rekursverfahren, wenn die Zulässigkeit des jeweiligen AOEV oder einer bestimmten freiheitsbeschränkenden Maßnahme iR des AOEV angefochten werden[54],[55],[56].
IdR wird die Meinung der Behandelnden oder Sachverständigen eine tragende Rolle haben und wesentlichen Einfluss in der freie Beweiswürdigung der jeweiligen Richterin oder Richters haben. Es gilt hierbei zu bedenken, ob es sich
(1) um eine ›Meinung ieS‹ handelt, dh ein ›Für-wahr-halten‹, das eine bestimmte Person über eine bestimmte Sache hat und die auch keiner weiteren subjektiven oder objektiven Begründung bedarf, oder ob es sich
(2) um eine ›ärztlichen Meinung ieS‹ handelt, die sehr wohl auf Fakten, dem gegenwärtigen Stand der Wissenschaft und Literatur und der eigenen medizinischen Expertise begründet sein muss.
Die oft zitierte und regelmäßig in Ermittlungs- und Unterbringungsverfahren angeführte ›subjektive ärztliche Intuition‹ entspricht eher einer ›Meinung ieS‹ denn einer ›ärztlichen Meinung ieS‹.
Dh die ›subjektive Intuition‹ entspricht grds einem unbestimmten ›Bauchgefühl‹ – einer Ahnung oder eben einer Meinung, der es in ihrem Wortsinn an einer finalen objektiven rationalen Begründung fehlt bzw die einer Konkretisierung bedarf[57],[58].
Entgegen eines weitläufigen Irrglaubens von medizinischen Laien kann das Gefährdungspotential in vielen Fällen aber weder zuverlässig noch nach allgemeinen medizinisch-wissenschaftlichen Kriterien standardisiert abgeschätzt werden, weswegen sich ein kurzer Blick in die medizinisch-wissenschaftliche Literatur lohnt[59].
3.1 Über die medizinische Präzisierung der Wahrscheinlichkeit.
Die Medizin ist eine empirische[60] Wissenschaft, dh sie ist aus Erfahrung entstanden und entwickelt sich ständig durch Erfahrungswerte, Untersuchungsergebnisse (=Beobachtungen) und Wahrscheinlichkeiten fort. Dies bringt es mit sich, dass die Medizin bei aller Empirie und Ausschöpfen von Hilfsbefunden zwar sehr exakt sein kann, aber immer – zumindest ein Quäntchen – Unsicherheit bleiben wird, bis der direkte Beweis[61] erbracht ist, sofern dieser überhaupt jemals erbracht werden kann[62].
Auch wenn es so manche Textstelle in einem Gerichtsbeschluss, Lehrbuch oder wissenschaftliche Arbeit unumstößlich und gewiss scheinen, darf nie verkannt werden, dass das einzige, das beim Zufall gewiss ist, die Unvorhersehbarkeit ist oder andersrum »nichts beim Zufall zufälliger ist als der Zufall selbst«.
Aber noch viel wesentlicher ist, dass das Gesagte oder Dokumentierte, das zu Beschlüssen und damit staatlich sanktionierter und legitimierter Freiheitsentziehung von psychiatrisch Kranken führt, auch nur von Menschen stammt, die an sich – zumindest in aufgeklärter, moderner Weltanschauung – niemals als unumstößlich und unantastbar gelten können.
Außerdem ist der Untersuchungsgegenstand bei der Gefährdungsbeurteilung kein leicht zu reproduzierender und demnach ›objektivierbarer‹ Laborwert, sondern das an sich ›unberechenbare‹ und nur schwer, wenn überhaupt, vorhersehbare menschliche Verhalten. Verlangt wird, dass das Verhalten
(a) ›objektiv‹, neutral und wertfrei[63] von Ärztinnen und Ärzten eingeschätzt werden soll und
(b) dass zuverlässig prognostiziert wird, ob in einem ›hohen Ausmaß an Wahrscheinlichkeit‹ eine ›ernstlich und erhebliche‹ Gefährdung verwirklicht wird. Bei einer solchen Fragestellung wird naturgemäß nach dem gegenwärtigen Stand des Wissens immer eine (große) Restunsicherheit bleiben (müssen).
Auch die sogenannten ›Normal-Gesunden‹ brechen tagtäglich ihre Versprechen, lügen, betrügen, machen unvorhergesehen Dinge zum Nachteil anderer, tyrannisieren ihre Mitmenschen oder fügen ihren nächsten Angehörigen – ihren eigenen Kindern – Gewalt, zu wie es Außenstehende nie vermuten würden und dies mit einer tausendfach ›höheren‹ Wahrscheinlichkeit als beim Lotto zu gewinnen, vom Blitz oder einem herabfallenden Dachziegel tödlich getroffen zu werden oder – und dies ist wesentlich – von einem nicht-untergebrachtem ›irrsinnigem‹ psychiatrisch Erkrankten verletzt oder getötet zu werden.
Letzteres verdeutlicht, dass Wahrscheinlichkeiten stets relativ sind bzw von zahlreichen Ko-faktoren abhängen und auch sehr oft nicht direkt vergleichbar sind. Nichtsdestotrotz geben Wahrscheinlichkeitsberechnungen, die grds systematisch prospektiv oder retrospektiv berechnet werden können, wertvolle Anhaltspunkte und können eine sehr profunde Diskussionsgrundlage für die sehr schwierige Thematik zur Verfügung stellen.
Explizit ist hier von einer Diskussionsgrundlage, nicht von einer Entscheidungsgrundlage für die Gerichte die Rede.
Denn auch wenn grds in jedem Menschen das Potential steckt, andere Menschen absichtlich oder wissentlich zu verletzen oder gar zu töten[64], werden nur vergleichsweise wenige Menschen dies tun – ›Normal-Gesunde‹, ›Normal-Kranke‹ oder ›Psychiatrisch-Kranke‹.
Wer, wie, wo und wann und va warum dies jemand tun wird, ist von einer Unmenge einzelner Faktoren abhängig, die in aller Regel wohl einer eingehenden Wahrscheinlichkeitsanalyse entzogen bleiben werden. Nichtsdestotrotz sind verlässliche und reproduzierbare Wahrscheinlichkeitsberechnungen in der Praxis naturgemäß schwierig zu berechnen, aber es ist sicherlich nicht unmöglich[65],[66].
Bei bestimmten psychiatrischen Erkrankungen, insbesondere der paranoiden Schizophrenie und bestimmten Persönlichkeitsentwicklungsstörungen, soll eine Prognose über etwaige Gefährdung, die aus der psychiatrischen Grundkrankheit resultiert, aber möglich sein.
Eine Art ›vis compulsiva‹[67] oder gar ›vis absoluta‹[68] würde die psychiatrisch Kranken mit einer ›inneren Stimme‹ oder ›inneren Zwang‹ zu einem bestimmtem (gefährlichem) Verhalten drängen bzw zwingen[69], womit ihnen ein solches selbst- und fremdgefährdendes Verhalten, wenn es denn verwirklicht würde, aber idR auch nicht subjektiv vorwerfbar sein wird.
Dies bedeutet aber nicht, dass psychiatrisch Erkrankte generell beschränkt oder überhaupt nicht einsichts- und urteilsfähig sind oder iA nicht paktfähig seien. Dies gilt idR eben nur für bestimmte Phasen iR ihrer psychiatrischen Grunderkrankung.
Aus der Vorstellung einer »zwingenden oder unabdingbaren Gewalt« heraus resultiert die Vorstellung, dass das Verhalten des psychiatrisch Kranken anders als das von ›Normalen-Gesunden‹ in engen Bahnen, stadienhaft und regelhaft verläuft und eben in einem gewissen Rahmen mehr oder weniger gut vorhersehbar sein soll.
Das oft zitierte Lehrbuch-Beispiel hierfür ist die paranoide Schizophrenie – eine schwere chronische psychiatrische Erkrankung, die mit Wahnvorstellungen, Verfolgungsideen und zumeist akustischen Halluzinationen einhergeht und die die Erkrankten in der Tat selbst zu ›willenlosen Opfern ihrer Erkrankung‹ machen kann.
Paranoid Schizophrene können sich verfolgt fühlen und ihre Mitmenschen als Außerirdische, feindliche Agenten, Dämonen oder sonst etwas verkennen und in Kurzschlussreaktionen mit einem Küchenmesser oder ähnlichem auf ›inneren‹ Befehl bzw Zwang den Nächstbesten in völligem Irrsinn attackieren, lebensgefährlich verletzen oder gar erstechen oder aber völlig unerwartet aus einer impulsiven Erregung heraus einfach einen schweren Gegenstand wie einen Fernseher aus dem Fenster schleudern und einen vorbeigehenden Passanten erschlagen[70],[71].
Dass die Thematik aber viel differenzierter ist als solche schon längst überholten und stigmatisierenden Vorstellungen psychiatrisch Kranker, die generell zu ›willenlosen gefährlichen und mordenden Objekten‹ ihrer Krankheit mutieren, zeigt die sehr kontrovers diskutierte medizinisch-wissenschaftliche Literatur über die Gefährdungsbeurteilungen, die aber in ihren Rückschlüssen auffallend einheitlich, distinkt und stringent ist:
die unterschiedlichen Studienkonzepte und insbesondere die unterschiedlichen Studienkohorten, die beobachtet und analysiert wurden, machen einen konkreten Vergleich und ein Zusammenziehen der verschiedenen Studien, um größere Fallzahlen und sohin aussagekräftigere statistische Ergebnisse zu erhalten, unmöglich.
Und die wesentliche Erkenntnis, die daraus gezogen werden kann ist, dass die Studienergebnisse nur mit größter Vorsicht auf den konkreten Einzelfall in der Praxis übertragen werden dürfen, um nicht ›Äpfel mit Birnen zu vergleichen‹.
Vielmehr dienen die Daten der klinischen Studien erfahrenen und versierten Klinikern als weitere Entscheidungsgrundlage in den von ihnen konkret zu beurteilenden Einzelfällen. Daraus folgt, dass neben den Studiendaten und Einzelfallberichten nach wie vor die Einschätzung und empirische Beurteilung der Behandelnden in der alltäglichen Praxis normalerweise sehr wertvoll sind.
Schließlich haben die Behandelnden idR mit größter Sorgfalt
(1) die psychiatrisch Erkrankten selbst untersucht,
(2) alle begleitenden individuellen Umstände der Kranken im Längs- und Querschnitt[72] analysiert,
(3) die wissenschaftlich publizierten Daten in ihre Beurteilung einfließen lassen und
(4) mit vielen zusätzlich Informationen über das häusliche und soziale Umfeld versucht, das Potential und Wahrscheinlichkeit einer Gefährdung abzuschätzen und natürlich auch mit ihrer ärztlichen ›subjektiven Intuition‹ abzugleichen.
Jedenfalls ist die Literatur zur Thematik divergent, aber überschaubar[73],[74],[75],[76],[77],[78],[79].
3.2 Über die juristische Präzisierung der Wahrscheinlichkeit.
Wahrscheinlichkeit und Prognose spielen im Recht, insbesondere in der Rechtsprechung eine nicht wegzuleugnende große praktische Bedeutung, spricht das Gesetz doch in vielen Normen von »niedriger, großer oder mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit«, ohne näher konkrete (statistische) Zahlen anzugeben.
Die semiquantitativen gesetzlichen Vorgaben werden gemeinhin in der Praxis durch die einzelne Richterin oder Richter konkretisiert, indem die Sachlage beurteilt, Beweise frei gewürdigt und letztendlich Recht gesprochen wird, dh in concreto ein Beschluss gefasst wird.
Die freie Beweiswürdigung erlaubt grds eine dynamische, situationsbezogene und patientenorientierte Einzelfallbeurteilung, bleibt aber nichtsdestotrotz das unbestimmteste Element des §3 UbG und ist aufgrund mangelnder Konkretisierung seitens des Gesetzgebers scheinbar zum ›Richterrecht‹ mutiert.
Von einem strikt wissenschaftlichen Standpunkt aus ist zu hinterfragen, was die einzelne Richterin und der einzelne Richter unter ›geringer‹, ›geringerer‹, ›mittlerer‹, ›höherer‹ und ›hoher‹ Wahrscheinlichkeit verstehen? Und was der Begriff eine ›hohe‹ Wahrscheinlichkeit konkret bedeuten soll oder besser noch, bedeuten muss?
Unbestritten würde beispielsweise eine vermutete Wahrscheinlichkeit von 1:10 mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit[80] von jedem anderen Menschen auch als eine ›hohe Wahrscheinlichkeit‹ iS des §3 UbG interpretiert werden.
Schließlich würde ja in einer von zehn exakt gleichen (hypothetischen) Situationen, in denen eine Unterbringung für nicht zulässig erklärt wird, kurz nach Aufhebung der Unterbringung eine ›ernstliche und erhebliche‹ Verletzung, Selbstmord oder ein Mord bzw Totschlag geschehen. In einem von 10 völlig gleichgearteten Fällen würde ›Schlimmes‹ passieren, so die Gefährdungsbeurteilung von 1:10.
Die neun anderen Male würde aber auch ›Schlimmes‹ passieren: ein Mensch würde hypothetisch neunmal in seinem Recht auf Freiheit verletzt, ohne dass ein Schaden eingetreten wäre.
Hierbei stellt sich die Frage, wie eine Wahrscheinlichkeitsratio von 1:10, 1:100, 1:1000, 1:10000, 1:100000 und 1:1000000 usw überhaupt bemessen wird, wie konkrete Bezugspunkte definiert und andere Parameter bzw Störvariablen identifiziert werden? Es wäre doch nur zu leicht, genau diese wesentliche Frage der Medizin und der Statistik oder ein paar wenigen Sachverständigen zu überlassen und keiner weiteren Plausibilitätskontrolle zu unterziehen (?).
Eine Wahrscheinlichkeitsbeurteilung, die zwar schön mit Zahlen wie 1:10 ›objektiviert‹ wäre, deren Zahlen aber selbst nicht ›objektiviert‹ werden können, wäre nur dem Anschein nach ›objektiv‹.
Die Wahrscheinlichkeitsbeurteilung wäre weiterhin nur ›subjektiv-intuitiv‹, dh willkürlich, und würde – sehr provokant formuliert – einem ›Wetten‹ und ›Zocken‹ mit den Grundrechten psychiatrisch Kranker gleichkommen.
Verständlicherweise könnten die einzelnen Richterinnen und Richter mangels eigener Kenntnisse die Gefährdungsbeurteilung de facto komplett den Behandelnden u/o Sachverständigen überlassen, womit im Umkehrschluss die freie Beweiswürdigung des Gerichts praktisch zur Gänze der Medizin überlassen würde und – ebenfalls sehr provokant formuliert – vom Gericht die ärztliche Meinung nur in ein ›straffes formales juristisches Korsett‹ – in einen Beschluss – gepresst würde, um formalen ›rechtsstaatlichen Ansprüchen‹ zu genügen.
Die Behandelnden wären in einer nahezu ›inquisitorischen Allmachtposition‹, könnten sie doch, wenn sie nur gut dokumentierten und argumentierten, sachlich durch andere Sachverständige im Nachhinein kaum widerlegt werden. Läge doch
[…] die besondere Schwierigkeit darin, im Nachhinein noch festzustellen, ob zum relevanten Zeitpunkt die gesetzlichen Voraussetzungen für die Vornahme der Beschränkung vorgelegen seien.
Dies resultiere vor allem daraus, dass sich der Richter und ein bestellter Sachverständiger keinen unmittelbaren Eindruck vom Zustand des Patienten zum Zeitpunkt der Anordnung und Dauer der Beschränkung mehr machen könnten.
Daraus resultierende Zweifel müssten letztlich zur Abweisung des auf Unzulässigerklärung abzielenden Antrags führen, wenn das Vorliegen der Voraussetzungen in der Krankengeschichte ordnungsgemäß dokumentiert sei.[…] [81].
Ärztinnen und Ärzte würden ›dem Gericht‹ vorgeben können, was in concreto eine ›ernstlich und erhebliche‹ Gefährdung ist und insbesondere wie wahrscheinlich sich diese verwirklichen könne. Wer sollte dem wohl widersprechen bzw widersprechen können?
[54] OGH 24.04.1991, 1Ob549/91.
[55] OGH 21.02.1996 7 Ob 638/95.
[56] OGH 19.12.2012, 7Ob218/12b.
[57] Das ›Bauchgefühl‹ – die ›subjektive Intuition‹ – erfahrener Kliniker ist nicht zu unterschätzen oder gar schlecht zu reden. Sie sind in der alltäglichen klinischen Praxis nicht wegzudenken und nach wie vor eines der wertvollsten Fundamente der Schulmedizin.
Nichtsdestotrotz stellt sich bei mehr als 20000 AOEV pro Jahr die Frage, wie viele Fälle davon eine ausreichende wissenschaftliche Begründung vorweisen können und wie viele auf einer reinen ›subjektiven Intuition‹ basieren. Dies ist auch eine der ständig wiederkehrenden Fragen des EGMR, wie man vor allem an der Entscheidung Kuttner gg Österreich sehen kann (EGMR 16.07.2015, 7997/08, Kuttner/Austria).
[58] EGMR 16.07.2015, 7997/08, Kuttner/Austria.
[59] Mit einer weiten Suchabfrage (Suchbegriffen {dangerousness and (prediction OR prognostic) and psychiatry}) in der allgemein zugänglichen weltweit öffentlichen Datenbank MEDLINE/Pubmed werden nur 87 Einträge angezeigt (http://www.ncbi.nlm.nih.gov; Stand: 24.01.2016), von denen die allermeisten Arbeiten das Rückfallrisiko geistiger abnorme Rechtsbrecher, Sexualstraftäter, jugendlicher Straftäter ua beleuchten.
Demnach bleiben nur sehr wenige Arbeiten – aus unterschiedlichen Ländern – übrig, die die Gefährdungsbeurteilung ieS, wie sie hier diskutiert wird, behandeln. Die Abstrakte der ausgewählten zitierten Arbeiten sind komplett im Anhang angeführt.
[60] Empirie, gr.: Erfahrung, Erfahrungswissen.
[61] Hier ist es aus einem strikt wissenschaftlichen Standpunkt aber besser von einem Nachweis zu sprechen. Der Begriff ›evidence‹ wird im Deutschen nahezu immer nur mit Beweis übersetzt bzw assoziiert.
Die Mehrdeutigkeit des Wortes ›evidence‹ wie ›Beleg, Nachweis, Hinweis, Indiz, Beweis, Beweisstück‹ wird sehr oft außer Acht gelassen und findet sehr wohl auch in der medizinisch-wissenschaftlichen Literatur unrichtig, jedenfalls zweideutig oder bisweilen missverständlich Verwendung.
[62] Laien glauben, dass zB mit einer Magnetresonanztomographie des Schädels mit Sicherheit ein Tumor dargestellt wird. Tatsächlich ist dies ist nur zT richtig, da grds nur eine bestimmte Signalalteration in bestimmter Lokalisation innerhalb der Schädelkalotte, Größe und Form dargestellt wird.
Die Erfahrungswerte aus vielen vorangegangenen Untersuchungen und Krankengeschichten und vielen ähnlichen bzw gleichen Signalalterationen, die in vielen Fällen zuvor auch biopsiert oder chirurgisch entfernt, histologisch aufbereitet wurden und zu einer endgültigen Diagnose führten, lassen eben in weiteren Fällen empirisch herleiten, dass es sich mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit um diesen oder jenen oder eben keinen Tumor handeln wird, ohne die Schädelkalotte (gleich) öffnen zu müssen.
Eine Restwahrscheinlichkeit bleibt in diesem alltäglichen Beispiel bis zum direkten Tumornachweis und –klassifikation durch Biopsie und Histologie natürlich bestehen.
[63] Beachte, ärztliches Handeln soll idR in der Gefährdungsbeurteilung ohne Wertung vorgenommen werden,
dh Ärztinnen und Ärzte müssen ihre eigenen Vorurteile und stigmatisierenden Vorstellungen, Befürchtungen und Sorgen gänzlich aus ihrer Beurteilung halten und nur zum Wohl der psychiatrisch Kranken entscheiden.
Dh sie müssen die Unterbringung bzw AOEV als allerletztes Mittel anwenden, weil ›in hohem Ausmaß an Wahrscheinlichkeit eine ernstliche und erhebliche Selbst- oder Fremdgefährdung‹ erwartet wird. Überzogene Angst und Fürsorge sind – wie im Detail bereits ausgeführt – kein Grund für den Eingriff und Einschränkung in die Grundrechte psychiatrisch Erkrankter.
[64] Bauer/Gruszniewski/Khawaled/Grinshpoon/Mark/Mester, Reflections on dangerousness and its prediction – a truly tantalizing task? Med Law (2002) 495.
[65] Man denke an die zahlreichen Beispiele, wie mit Big-Data treffende Prognosen gemacht wurden und werden.
[66] Beuth, „Schwanger ohne digitale Spuren“ http://www.zeit.de/digital/datenschutz/2014-04/big-data-schwangerschaft-verheimlichen (abgefragt am 18.01.2016).
[67] Lat.: »zwingende Gewalt« synon. willensbeugende bzw. willensbrechende Gewalt.
[68] Lat.: »absolute, unabdingbare Gewalt«; Gewalt, die eine freie Willensbetätigung oder Willensbildung vereitelt.
[69] Die Klischee-Vorstellung von paranoid Schizophrenen oder schüchternen, zurückgezogenen Psychopathen mit multipler Persönlichkeitsentwicklungsstörung, die von ihrem ›alter ego‹ zum Mord getrieben oder gar gezwungen werden, prägt aufgrund des Boulevard, zahlreicher Romane, Spielfilme und Hollywood-Klassikern wie »Psycho« von Alfred Hitchcock – zumindest unbewusst – die Laien-Vorstellung von unberechenbaren, unkontrollierbaren und gefährlichen psychiatrisch Kranken.
Fallvignetten finden sich auch in diversen medizinischen Lehrbüchern und können sehr wohl auch zu einer überzogene Vorstellung darüber bei Ärztinnen und Ärzten führen. Unbestritten ist, dass es solche Fälle gibt und auch immer geben wird. Aber sie sind nicht die Regel.
Natürlich gibt es selbst- und fremdgefährdendes Verhalten, das durch eine psychiatrische Erkrankung bedingt ist, wobei die stereotypen Fragen für eine Gefährdungsbeurteilung gem §3 UbG stets sein müssen:
(a) welches Verhalten führt konkret,
(b) zu welcher Gefährdung und tritt
(c) mit welcher Wahrscheinlichkeit auf?.
[70] Prüter, Zusammenhang zwischen Wahninhalt und Gewalt – gibt es stereotype Delikte bei Wahnkranken?, in Lammel/Sutarski/Lau/Bauer (Hrsg), Wahn und Schizophrenie: Psychopathologie und forensische Relevanz (2011) 101.
[71] Nochmals sei an dieser Stelle erwähnt, dass die Unterbringung gem §3 UbG eine Maßnahme ultimae rationis in der Behandlung psychiatrisch Erkrankter an einer psychiatrischen Abteilung ist und dass die Unterbringung keine Maßnahme des Maßnahmenvollzugs ist und der Begriff Unterbringung gem §3 UbG ›geistig abnorme Rechtsbrecher‹, ›dissoziale Delinquenten‹ oder ›Straftäter mit psychiatrischer Krankheit u/o Persönlichkeitsstörung mit hohem Rückfallpotential‹ ausklammert.
[72] Mit Querschnitt wird der aktuelle Zustand und die Situation bezeichnet, mit Längsschnitt die Entwicklung der Symptome bzw einer Krankheit im zeitlichen Verlauf.
[73] Siehe auch Fußnote 59.
[74] Prüter, (2011) 101.
[75] Bauer/Gruszniewski/Khawaled/Grinshpoon/Mark/Mester, (2002) 495.
[76] Bloom, The character of danger in psychiatric practice: are the mentally ill dangerous? Bull Am Acad Psychiatry Law (1989) 241.
[77] Mullen, Mental disorder and dangerousness. Aust N Z J Psychiatry (1984) 8.
[78] Nilsson/Munthe/Gustavson/Forsman/Anckarsäter, The precarious practice of forensic psychiatric risk assessments. Int J Law Psychiatry (2009) 400.
[79] Odeh/Zeiss/Huss, Cues they use: clinicians‘ endorsement of risk cues in predictions of dangerousness. Behav Sci Law (2006) 147.
[80] Mehr als 90% oder 99.9%?.
[81] OGH 19.12.2012, 7Ob218/12b.
4 Eminenz-basiert versus Evidenz-basiert.
Der in der Medizin bereits vor Jahrzehnten eingesetzte Paradigmen-Wechsel von einer rein Eminenz-basierten Medizin EBM (EBM) zu einer hauptsächlichen Evidenz-basierten Medizin (EBM[82]) ist Ausdruck einer allgemeinen Grundstimmung, die sich allmählich in den modernen Industrie-Gesellschaften durchzusetzen scheint:
Abläufe und Entscheidungen sollen und müssen wenn möglich objektiv, aber zumindest rational begründet, nachvollziehbar und transparent sein.
Es ist Ausdruck des modernen Aufgeklärt-Seins, Obrigkeiten und insbesondere von bestimmten Obrigkeit aufgestellte Dogmen, Lehrsätze, Meinungen[83] und Entscheidungen hinterfragen zu dürfen und auf ihre Plausibilität, Rationalität und Objektivität zu prüfen.
Die Einzelmeinung einzelner Eminenzen, dh ›Experten auf ihrem Gebiet‹, ist nicht mehr unantastbar und findet gemeinhin auch nicht mehr Einzug in die medizinischen Lehrbücher und Lehre, ohne idR vorher ausreichend und gebührend wissenschaftlich diskutiert worden zu sein bzw auch nachher einer breiten Öffentlichkeit zur wissenschaftlichen Diskussion zur Verfügung gestellt zu werden.
Die Einzelmeinung, das Wesen der Eminenz-basierten Medizin, tritt mittlerweile hinter die wissenschaftlich ›objektiven‹, dh zumindest standardisiert erhobenen und (hoffentlich) reproduzierbaren Fakten der Evidenz-basierte Medizin zurück, wobei diese Entwicklung, die erst vor wenigen Jahrzehnten eingesetzt hat, noch lange nicht abgeschlossen sein wird.
Mittlerweile sind Ansätze einer solchen Entwicklung auch im Recht, insbesondere in der Rsp erkennbar, obgleich nicht klar ist, ob jemals eine ähnliche Diskussion wie in der Medizin über eine ›Eminenz-basierten Rechtsprechung‹ (EBR) und einer ›Evidenz-basierten Rechtsprechung‹ (EBR) geführt werden wird bzw auch jemals geführt werden kann, ist doch der Erkenntnisgegenstand der Rechtswissenschaften das Recht.
Das Recht ist wie die Gerechtigkeit selbst nur als ein ›Konstrukt des Menschen‹[84] anzusehen. Dh das Recht ist eine faktische, aber durch soziale Konvention, Legislative und Rsp veränderliche Gegebenheit.
Regeln in der Gesetzgebung und Auslegung von Gesetzen und ein hierarchischer Stufenbau der Rechtordnung sollen auch einer reinen Willkür vorbeugen. Nicht zu Unrecht erwarten die Rechtsunterworfenen sehr viel von den Richterinnen und Richtern[85], können sie doch mit ihrem Urteil das Leben der Rechtsunterworfenen entscheidend beeinflussen.
Je höher einzelne Individuen in dieser Ordnung stehen desto mehr faktische Macht genießen sie. Sie sind ›Eminenzen ieS‹, dh Autoritäten, von denen zT nicht mehr vom Richter X und von der Richterin Y gesprochen wird, sondern nur mehr abstrakt von ›dem Gericht‹, zB dem OGH, dem VfGH, dem EGMR.
Die Abstraktheit, dh die ›Entpersonalisierung‹ bzw ›Institutionalisierung‹, soll scheinbar eine gewisse Unnahbarkeit, Unantastbarkeit und Erhabenheit, jedenfalls Macht ausdrücken, täuscht aber trotzdem nicht darüber hinweg, dass es nur Bewertungen und Werturteile von ein paar wenigen Menschen mit ›gewisser Autorität‹ sind, die versuchen, das schriftlich zu präzisieren, das die Medizin noch nicht so zu präzisieren vermag, wie die Gesetzgeber dies vielleicht glauben wollten und völlig zu Recht und verständlicherweise für unabdingbar erachten.
Aber es wäre ein Trugschluss zu glauben, dass die Präzisierung der Wahrscheinlichkeit das Grundproblem lösen würde. Denn spätestens wenn die Wahrscheinlichkeit zuverlässig medizinisch und statistisch präzisiert werden könnte, wäre juristische Konsequenz, das zu präzisieren, das weder die Medizin noch die Statistik zu präzisieren vermögen:
»Stellen Sie sich nun wirklich bildlich vor,
dass alle um Sie herum – Ihre nächsten Angehörigen, Ihre Liebsten und ein paar Personen in Weiß und andere Personen wie ein Richter – meinen, dass Sie ›ver-rückt‹ seien;
dass es besser sei, wenn Sie hier an diesem Ort – in dieser Anstalt – blieben;
dass Sie nur ein paar Medikamente einnehmen sollten bzw sich ein paar Medikamente injizieren lassen sollten;
alles nur, dass es Ihnen besser ginge.
Sie fühlen sich aber gesund und sind sicher nicht ›ver-rückt‹.
Im Gegenteil, Sie verstehen die Welt um Sie herum nicht. Es ist alles wie in einem ›falschen Film‹. Spätestens dann, wenn Sie von zig Personen um sich herum mit Armen und Beinen an ein Bett geschnallt werden und wider Ihrem Willen Medikamente verabreicht bekommen und alle stereotyp und wie ›aufgezogen und indoktriniert‹ zu Ihnen sagen »Regen Sie sich nicht auf. Bald wird es besser.
Schlafen Sie erst einmal… Sie sind ›ver-rückt‹. Warum verstehen Sie nicht, warum wollen Sie nicht verstehen. Wir helfen Ihnen doch nur. Es dauert nur ein klein wenig, gönnen Sie sich ein Bisschen Zeit für sich, um zur Ruhe zu kommen… Alles wird wieder gut.«
ja, spätestens dann werden auch Sie sich bedroht fühlen und versuchen, die festgezurrten Gurte mit ihrer ganzen Muskelkraft und Muskelanspannung zu lösen und sich zu befreien.
Vielleicht schimpfen Sie auch, verfluchen andere, wünschen ›Ihren Peinigern‹ den ›Tod und die Pest an den Hals‹, spucken, weinen und schreien oder beginnen schließlich aus tiefster Verzweiflung zu lachen.
All dies könnte nachher als verbal, vielleicht auch tätlich aggressives Verhalten interpretiert werden und für eine erhöhte Gewaltbereitschaft sprechen… und weil Sie affektlabil[86] seien, könnte eine unvorhergesehene gefährliche Handlung – eine Kurzschlussreaktion – nicht ausgeschlossen werden… «
Und nun frage ich Sie:
»Mit welchem Grad an Wahrscheinlichkeit würden Sie es gerechtfertigt sehen, dass Sie selbst untergebracht würden, um eine ›ernstlich und erhebliche‹ Gefahr abzuhalten?
1:10?
1:1000 oder doch
1:1000000? «
Womit sich der Reigen schließt und juristisch endlich präzisiert werden muss, wozu die EBM mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nie in der Lage war und auch nie sein wird.
[82] Es handelt sich um keinen Irrtum. Die Abkürzungen sind verwirrenderweise gleich.
[83] Siehe Fußnoten 57 und 58 und Seite 12.
[84] Walzer, Sphären der Gerechtigkeit: ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit (2006).
[85] Aristotheles (griech. Philosoph, 384 – 322 vor Chr): »Vor den Richter gehen, heißt aber, auf Gerechtigkeit ausgehen; denn der Richter soll gewissermaßen die lebendige Gerechtigkeit sein.«
[86] Affektlabil heißt, sehr einfach formuliert, dass starke Stimmungsschwankungen auftreten: Sie weinen, Sie schreien, Sie lachen.
Rechtsquellenverzeichnis
- AB 1202 BlgNR 22.GP.
- Bundesgesetz vom 1. März 1990 über die Unterbringung psychisch Kranker in Krankenanstalten (Unterbringungsgesetz – UbG) BGBl. Nr. 155/1990 idF BGBl. I Nr. 18/2010.
- Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) BGBl Nr 1/1930 idF BGBl I Nr 194/1999 idf BGbl I Nr 102/2014.
- RV 464 BlgNR 27.GP.
Literaturverzeichnis
- Bauer/Gruszniewski/Khawaled/Grinshpoon/Mark M/Mester, Reflections on dangerousness and its prediction–a truly tantalizing task? Med Law (2002) 495.
- Beuth, „Schwanger ohne digitale Spuren“ http://www.zeit.de/digital/datenschutz/2014-04/big-data-schwangerschaft-verheimlichen (abgefragt am 18.01.2016).
- Bleuler, Die „endogenen“ Geistesstörungen, in Bleuler (Hrsg), Lehrbuch der Psychiatrie: unveränderter Nachdruck der von Manfred Bleuler bearbeiteten 15. Auflage (1983) 408.
- Bloom, The character of danger in psychiatric practice: are the mentally ill dangerous? Bull Am Acad Psychiatry Law (1989) 241.
- Ladurner/Sagerschnig/Nowotny, Unterbringungen gemäß UbG in der Praxis, in Gesundheit Österreich Gmbh (Hrsg), Analyse der Unterbringungen nach UbG in Österreich: Berichtsjahre 2012/13 (2015) 19.
- Mullen, Mental disorder and dangerousness. Aust N Z J Psychiatry (1984) 8.
- Nilsson/Munthe/Gustavson /Forsman/Anckarsäter, The precarious practice of forensic psychiatric risk assessments. Int J Law Psychiatry (2009) 400.
- Odeh/Zeiss/Huss, Cues they use: clinicians‘ endorsement of risk cues in predictions of dangerousness. Behav Sci Law (2006) 147.
- Prüter, Zusammenhang zwischen Wahninhalt und Gewalt – gibt es stereotype Delikte bei Wahnkranken?, in Lammel/Sutarski/Lau/Bauer (Hrsg), Wahn und Schizophrenie: Psychopathologie und forensische Relevanz (2011) 101.
- Walzer, Sphären der Gerechtigkeit: ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit (2006).
- Windmann, Der verlorene Sohn. Der Spiegel 2008, 42.
- Windmann, „Der verlorene Sohn“ http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-99311763.html (abgefragt am 18.01.2016).
Judikaturverzeichnis
- EGMR 24.10.1979, 6301/73, Winterwerp/Niederlande.
- EGMR 08.07.2004, 48787/99, Ilascu und andere/Moldawien und Russland.
- EGMR 2.10.2012, 41242/08, Pleso/Ungarn.
- EGMR 22.1.2013, 35939/10, Mihailovs/Lettland.
- EGMR 16.07.2015, 7997/08, Kuttner/Austria.
- OGH 24.04.1991, 1 Ob549/91.
- OGH 14.11.1991, 7 Ob 610/91.
- OGH 07.09.1994, 3 Ob 538/94.
- OGH 21.02.1996, 7 Ob 638/95.
- OGH 19.08.1998, 9 Ob 152/98p.
- OGH 05.08.2003, 7 Ob 173/03x.
- OGH 23.02.2010, 4 Ob 210/09z.
- OGH 19.12.2012, 7 Ob218/12b.
- OGH 3.7.2013, 7 Ob 84/13y.
- OGH 19.03.2014, 7 Ob 202/13a.
- OGH 10.12.2014, 7 Ob 157/14k.
Abkürzungsverzeichnis:
AEOV Aufenthalt ohne eigenes Verlangen; Anm Anmerkung; B-VG Bundesverfassungsgesetz; bzw beziehungsweise; dh das heißt; EMRK Europäische Menschenrechtskonvention; EGMR Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte; Erk Erkenntnis;
ggü gegenüber; grds grundsätzlich; iA im Allgemeinen; idR in der Regel; idS in diesem Sinne; ieS im engeren Sinn; iF in Folge; iS im Sinne; iW im Wesentlichen; iwF in weiterer Folge; mE meines Erachtens; mW meines Wissens;
OGH Oberster Gerichtshof; Rsp Rechtsprechung; ua unter anderem; UbG Unterbringungsgesetz; uU unter Umständen; zB zum Beispiel; zT zum Teil
Anhang.
Die Abstrakte sind in der weltweiten, frei zugänglichen wissenschaftlich-medizinischen Datenbank MEDLINE bzw PUBMED unter http://www.ncbi.nlm.nih.gov frei zugänglich.
Bauer/Gruszniewski/Khawaled/Grinshpoon/Mark M/Mester, Reflections on dangerousness and its prediction–a truly tantalizing task? Med Law (2002) 495.
Abstract
Risk or dangerousness is a problem which, of its very nature, must occupy the minds of all mental health and law enforcement professionals. Papers and research studies without number have attempted to define its extent and constituent elements and plumb the secrets of its assessment.
Defining the tools and skills needed to analyze and predict dangerousness is a key contribution to helping psychiatrists and lawyers take their critical decisions on compulsory hospitalization, issuing or refusing a gun or driving license, etc.
Members of other professions too have not only to decide whether or not to curtail an individual’s civil rights but to be able to put forward rational and coherent grounds for their decision.
And yet time after time mistaken decisions are made, frequently causing the subject of the decision unnecessary suffering and sometimes leading to a tragic outcome.
The difficulty of risk assessment is its complexity, the result of a multitude of contributing and interacting variables. The ‚dangerous person‘ does not have a single profile: there is no individual who under certain circumstances cannot become dangerous. That being so, the focus of our study must not be the factors capable of making a person violent but correctly managing the circumstances and situations in which violence can occur.
For the purposes of this paper we concern ourselves only with the physical aspects of dangerousness. Although the risk we analyze here is bound up with an act of violence, we must keep in mind that dangerousness and violence are two separate concepts.
After reviewing existing theory and current knowledge on risk assessment and prediction, we shall describe how the Israeli judicial and legislative systems deal with risk and attempt the task of forecasting the use of violence in a divided society in the throes of modernization.
To close we propose an explorative study, designed to develop a short- and medium-range risk assessment instrument.
Bloom, The character of danger in psychiatric practice: are the mentally ill dangerous? Bull Am Acad Psychiatry Law (1989) 241.
Abstract
This paper explores the question of dangerousness and the mentally ill. Research for this paper was stimulated by the death by homicide of two psychiatrists in Oregon in 1985.
The paper reviews three distinct areas in the psychiatric literature: the arrests of mental patients, assaults against psychiatrists and other mental health professionals, and assaultive behaviors exhibited by patients in hospitals and other psychiatric settings. The author concludes that the risks are real but are dependent, for the most part, on setting and the acuteness of illness. Realism in regard to risk is critical for the mentally ill, their families, professional caregivers, and society in general.
Mullen, Mental disorder and dangerousness. Aust N Z J Psychiatry (1984) 8.
Abstract
Psychiatrists are called upon to make judgements on the future dangerousness of mentally disordered subjects in civil commitment procedures, in the criminal courts, and during the decision process on the release of offenders on indeterminate sentences or committals.
The ability of psychiatrists to make these judgements is increasingly under challenge. The difficulties of making useful predictions when the base rate for the event to be predicted is low, is now well recognised. Less obvious are the problems attendant upon making socially useful predictions on psychiatric grounds in populations with a high base rate for future offending. The evidence pertaining to the level of violence amongst the mentally disordered is reviewed.
The lesson to be drawn from the empirical evidence is that mental abnormality of and in itself contributes little to the prediction of the predisposition to act violently.
The question remains as to whether there are definable groups or classes within the generality of mentally abnormal individuals for whom there is an increased risk of future violence. It would be compatible with both the research studies and common clinical impression if the mentally abnormal contained subgroups with unusually violent predispositions balanced by larger groups with less than average propensities to aggression.
The literature is largely inadequate to delineate such high risk groups with the degree of certainty ideally needed to instruct clinical decisions, but does suggest that such groups exist and are capable of further empirical definition.
Nilsson/Munthe/Gustavson /Forsman/Anckarsäter, The precarious practice of forensic psychiatric risk assessments. Int J Law Psychiatry (2009) 400.
Abstract
The development of forensic psychiatric risk assessments is discussed from a clinical point of view using the example of Sweden. A central task in forensic psychiatry has traditionally been to identify dangerous, mentally disordered subjects considered to be prone to commit violent acts. Over time, „dangerousness“ has been reworded into „risk“.
Nevertheless, such assessments have generally been based on the psychiatric factors characterising the individual patient, while group interaction, situational factors, or social and cultural circumstances, such as the availability of alcohol and drugs, have been largely overlooked.
That risk assessments have a focused on people with a diagnosis of „mental disorder“ and been used as grounds for coercive measures and integrity violations has somehow been accepted as a matter of course in the public and political debate.
Even the basic question whether offenders with a mental disorder are really more prone to criminal recidivism than other offenders seems to have been treated light-handedly and dealt with merely by epidemiological comparisons between groups of persons with broad ranges of psychosocial vulnerability and the general population.
Legal texts, instructions and guidelines from the authorities in charge are often vague and general, while actors in the judicial system seem to put their trust in psychiatric opinions. The exchange of professional opinions, general public expectations, and judicial decision processes poses a huge risk for misunderstandings based on divergent expectations and uses of terminology.
Odeh/Zeiss/Huss, Cues they use: clinicians‘ endorsement of risk cues in predictions of dangerousness. Behav Sci Law (2006) 147.
Abstract
Clinical predictions of violence are a necessary part of clinical practice despite extensive literature validating the use of actuarial rather than clinical prediction. The current study examined clinicians‘ use of risk cues in predictions of violence.
Clinicians identified several risk cues as significant in clinical assessments of risk, including a history of assaults, hostility, medication noncompliance, paranoid delusions, presence of psychosis, and family problems. However, further results indicated that clinician-endorsed risk cues lack predictive power in the present sample.
Literatur (für Homepage-Veröffentlichung)
Die Literatur wurde hier nochmals für die Veröffentlichung in diesem Beitrag geordnet. Die Rechtsquellen, juristischen und medizinischen Arbeiten und Kommentare wurden nach der Reihenfolge ihres Auftretens im Text hier nochmals angeführt.
[1] EGMR 24.10.1979, 6301/73, Winterwerp/Niederlande.
[2] EGMR 22.1.2013, 35.939/10, Mihailovs/Lettland.
[3] Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) BGBl Nr 1/1930 idF BGBl I Nr 194/1999 idf BGbl I Nr 102/2014.
[4] Der von Eugen Bleuler begründete und geprägte Begriff des ›Ver-rücktseins‹ wird hier sehr bewusst eingesetzt. Bleuler beschrieb damit, das ›aus der Realität ver-rückt sein‹.
Der Begriff in der von Bleuler ursprünglich geprägten und verstandenen Bedeutung beinhaltet keine Wertung oder gar Abwertung oder Entwertung.
Er mochte seine Patientinnen und Patienten, mit denen er gemeinsam in einer entlegenen Anstalt ›Burghölzli‹ in der Schweiz lebte, diese behandelte und studierte, und seine Beobachtungen akribisch niederschrieb und die moderne Psychiatrie wesentlich formte und mitbegründete.
Die Schizophrenie ist nach ihm als ›Morbus Bleuler‹ benannt.
[5] Ladurner/Sagerschnig/Nowotny, Unterbringungen gemäß UbG in der Praxis, in Gesundheit Österreich Gmbh (Hrsg), Analyse der Unterbringungen nach UbG in Österreich: Berichtsjahre 2012/13 (2015) 19.
[6] EGMR 24.10.1979, 6301/73, Winterwerp/Niederlande.
[7] EGMR 22.1.2013, 35.939/10, Mihailovs/Lettland.
[8] EGMR 2.10.2012, 41.242/08, Pleso/Ungarn.
[9] Bundesgesetz vom 1. März 1990 über die Unterbringung psychisch Kranker in Krankenanstalten (Unterbringungsgesetz – UbG) BGBl. Nr. 155/1990 idF BGBl. I Nr. 18/2010.
[10] Beachte, nicht die Gefährdungsbeurteilung wird als ›nicht objektiv‹, sondern die Kriterien der Gefährdungsbeurteilung als ›nicht objektivierbar‹ bezeichnet bzw. kritisch hinterfragt.
[11] RV 464 BlgNR 27.GP 14.
[12] EGMR 24.10.1979, 6301/73, Winterwerp/Niederlande.
[13] In den Jahren 2005/2006 war der Autor selbst als Arzt in zahlreichen Unterbringungsverfahren als Vertretung des Abteilungsvorstands einer psychiatrischen Abteilung beteiligt, womit nur gesagt sein soll, dass er die Problematik aus zwei Perspektiven beleuchten kann.
Nach der Erfahrung des Autors ist die Möglichkeit psychiatrisch Kranke wie vom Gesetzgeber subsidiär als ultima ratio unterbringen zu können, notwendig und nicht schlechtzureden. Nichtsdestotrotz muss die hohe Zahl an AOEV kritisch sowohl von der Medizin als auch vom Recht hinterfragt werden.
Und genau dies würde eben eine intensive und kontroverse Grundsatzdiskussion und vielschichtige Auseinandersetzung mit der Thematik notwendig machen und erfordern.
[14] In Analogie zum allgemein bekannten und vielfach sehr kontrovers diskutierten Begriff der Defensivmedizin erlaubt sich der Autor den Begriff der Begriff der ›Defensiv-Jurisdiktion‹ zu kreieren und zur Diskussion zu stellen.
[15] Windmann, Der verlorene Sohn. Der Spiegel 2008, 42.
[16] Windmann, „Der verlorene Sohn.“ http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-99311763.html (abgefragt am 18.01.2016).
[17] Hierbei kommt den Gutachtern bzw (gerichtlich beeideten) Sachverständigen eine bedeutende Rolle und Verantwortung zu, ist es doch sehr schwierig, einen so ›lebendigen‹ Sachverhalt aus einer Krankengeschichte und anderer Protokollen und Dokumentation – seien diese alle noch so vollständig und umfassend – im Nachhinein ›lebensecht‹ oder zumindest ›lebensnahe‹ zu rekonstruieren und daraus eine richtige EX ANTE Beurteilung zu machen.
[18] OGH 14.11.199, 7Ob 610/91.
[19] RV 464 BlgNR 27.GP 20.
[20] OGH 25.02.1993, 2 Ob 605/92.
[21] RV 464 BlgNR 27.GP 15.
[22] Beachte, ›sein muss‹ und nicht ›sein kann‹.
[23] RV 464 BlgNR 27.GP 20.
[24] RV 464 BlgNR 27.GP 20.
[25] Aus diesem Grund wird in der vorliegenden Arbeit sehr bewusst und strikt von ›psychiatrisch Erkrankten‹, ›psychiatrisch Kranken‹ und ›psychiatrisch Kranksein‹ gesprochen und die häufig synonym verwendeten Begriffe von ›psychisch Erkrankten‹, ›psychisch Kranken‹ und ›psychisch Kranksein‹ vermieden.
Selbst im §3 UbG ist von einer ›psychischen Krankheit‹ die Rede, deren begrifflicher Umfang in der Regierungsvorlage vom Gesetzgeber aber eben noch präzisiert wurde (zB: RV 464 BlgNR 27.GP 20).
[26] Hier muss in den allermeisten Fällen auch davon ausgegangen werden, dass keine ansteckenden infektiösen Erkrankungen oder andere Gefährdungselemente wie leicht entzündliche oder explosive Materialien den Übelstand begleiten. Dies würde durch das Gefährdungselement die Sachlage logisch und per Definition verändern.
[27] AB 1202 BlgNR 22.GP 5.
[28] OGH 05.08.2003, 7 Ob 173/03x.
[29] OGH 07.09.1994, 3 Ob 538/94.
[30] AB 1202 BlgNR 22.GP 5.
[31] OGH 14.11.199, 7Ob 610/91.
[32] EGMR 24.10.1979, 6301/73, Winterwerp/Niederlande.
[33] RV 464 BlgNR 27.GP 20.
[34] OGH 19.08.1998, 9 Ob 152/98p.
[35] EGMR, 08.07.2004, 48787/99, Ilascu und andere/Moldawien und Russland.
[36] RV 464 BlgNR 27.GP 20.
[37] OGH 19.03.2014 7 Ob 202/13a.
[38] OGH 19.08.1998 9 Ob 152/98p.
[39] OGH 23.02.2010, 4 Ob 210/09z.
[40] RV 464 BlgNR 27.GP 20.
[41] Bei der Defensivmedizin wird sehr oft das Nutzen/Risiko Profil von zahlreichen medizinischen Interventionen übersehen bzw schlichtweg ignoriert, da viele Folgeschäden durch medizinische Interventionen auch vorerst gar nicht absehbar sind bzw nach vielen Jahren erst eintreten und ein kausaler Beweis für Folgeschäden im konkreten Einzelfall nur schwer bzw gar nicht erbracht werden kann. Denke zB an Folgeschäden durch ›pseudo-forensische Absicherungs-Computertomographien‹ des Schädels, Kontrastmittelgabe uvm.
Konkret bei der Unterbringung würde ein defensivmedizinisches Verhalten eine großzügige nur dem Anschein nach objektive, dh sachlich gerechtfertigte Unterbringung mit sich bringen.
Defensivmedizinisch deswegen, um sich nicht im Nachhinein den Vorwurf gefallen lassen zu müssen, eine Gefahr falsch eingeschätzt zu haben und nicht alle möglichen Mittel ausgeschöpft zu haben, um ›ernsten und erheblichen‹ Schaden von Menschen abzuhalten.
Naturgemäß wäre dies unausgesprochen.
[42] OGH 10.12.2014, 7 Ob 157/14k.
[43] Das Rekursgericht leistete dem Rekurs eines paranoid schizophrenen untergebrachten Patienten Folge und erklärte die Unterbringung nachträglich für unzulässig, weil das Erstgericht nach Ansicht des Rekursgerichts eben nur den Wortlaut des Gesetzes wiedergab, ohne die Gefährdung zu konkretisieren.
Die konkreten Anhaltspunkte müssten im Beschluss behandelt und ausgeführt sein – so die Begründung des Rekursgerichts. Der einfache Senat des OGH teilte die Rechtsansicht des Rekursgerichts nicht und beurteilte den Revisionsrekurs des Abteilungsleiters der Psychiatrischen Abteilung für zulässig und auch berechtigt.
Der einfache Senat verstärkt nur noch einmal den Beschluss des Erstgerichts, gibt aber keine objektivierbare Begründung dafür an, warum nun eine ›massive‹ Erkrankung und Gefährdung vorläge (s. OGH 10.12.2014, 7 Ob 157/14k), sondern nur dass eine solche ›massive‹ Erkrankung nach Ansicht des OGH sehr wohl vorhanden gewesen sei.
Woraus die ›Massivität‹ der Erkrankung abgelesen bzw bestimmt wurde, bleibt offen. Es wirkt wie ein Schlagabtausch mit Worten, der einfach hierarchisch – ohne nähere medizinisch-fachliche, dh sachliche Ausführungen – entschieden wird.
[44] OGH 10.12.2014, 7 Ob 157/14k.
[45] OGH 19.03.2014 7 Ob 202/13a.
[46] OGH 3.7.2013, 7 Ob 84/13y.
[47] Ein solcher sprunghafter Anstieg der Mortalität und Morbidität psychiatrisch Kranker und Dritter würde mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von der Öffentlichkeit bemerkt und den Medien diskutiert werden.
[48] Zumindest gilt es schonungslos, aber stets neutral zu diskutieren, ob eine Gefährdung in Wahrscheinlichkeit und Potential konkretisiert und objektiviert werden kann bzw in Relation zu ›Normalen-Gesunden‹ gesetzt werden kann, die ebenfalls durch fahrlässiges, absichtliches oder wissentliches selbst- oder fremdgefährdendes Verhalten sich selbst u/o Dritte ›ernstlich und erheblich in einem hohen Ausmaß an Wahrscheinlichkeit‹ gefährden.
[49] OGH 19.08.1998 9 Ob 152/98p.
[50] RV 464 BlgNR 27.GP 20.
[51] Art 7 B-VG.
[52] EGMR 22.1.2013, 35939/10, Mihailovs/Lettland.
[53] EGMR 16.07.2015, 7997/08, Kuttner/Austria.
[54] OGH 24.04.1991, 1Ob549/91.
[55] OGH 21.02.1996 7 Ob 638/95.
[56] OGH 19.12.2012, 7Ob218/12b.
[57] Das ›Bauchgefühl‹ – die ›subjektive Intuition‹ – erfahrener Kliniker ist nicht zu unterschätzen oder gar schlecht zu reden. Sie sind in der alltäglichen klinischen Praxis nicht wegzudenken und nach wie vor eines der wertvollsten Fundamente der Schulmedizin.
Nichtsdestotrotz stellt sich bei mehr als 20000 AOEV pro Jahr die Frage, wie viele Fälle davon eine ausreichende wissenschaftliche Begründung vorweisen können und wie viele auf einer reinen ›subjektiven Intuition‹ basieren. Dies ist auch eine der ständig wiederkehrenden Fragen des EGMR, wie man vor allem an der Entscheidung Kuttner gg Österreich sehen kann (EGMR 16.07.2015, 7997/08, Kuttner/Austria).
[58] EGMR 16.07.2015, 7997/08, Kuttner/Austria.
[59] Mit einer weiten Suchabfrage (Suchbegriffen {dangerousness and (prediction OR prognostic) and psychiatry}) in der allgemein zugänglichen weltweit öffentlichen Datenbank MEDLINE/Pubmed werden nur 87 Einträge angezeigt (http://www.ncbi.nlm.nih.gov; Stand: 24.01.2016), von denen die allermeisten Arbeiten das Rückfallrisiko geistiger abnorme Rechtsbrecher, Sexualstraftäter, jugendlicher Straftäter ua beleuchten.
Demnach bleiben nur sehr wenige Arbeiten – aus unterschiedlichen Ländern – übrig, die die Gefährdungsbeurteilung ieS, wie sie hier diskutiert wird, behandeln. Die Abstrakte der ausgewählten zitierten Arbeiten sind komplett im Anhang angeführt.
[60] Empirie, gr.: Erfahrung, Erfahrungswissen.
[61] Hier ist es aus einem strikt wissenschaftlichen Standpunkt aber besser von einem Nachweis zu sprechen. Der Begriff ›evidence‹ wird im Deutschen nahezu immer nur mit Beweis übersetzt bzw assoziiert.
Die Mehrdeutigkeit des Wortes ›evidence‹ wie ›Beleg, Nachweis, Hinweis, Indiz, Beweis, Beweisstück‹ wird sehr oft außer Acht gelassen und findet sehr wohl auch in der medizinisch-wissenschaftlichen Literatur unrichtig, jedenfalls zweideutig oder bisweilen missverständlich Verwendung.
[62] Laien glauben, dass zB mit einer Magnetresonanztomographie des Schädels mit Sicherheit ein Tumor dargestellt wird. Tatsächlich ist dies ist nur zT richtig, da grds nur eine bestimmte Signalalteration in bestimmter Lokalisation innerhalb der Schädelkalotte, Größe und Form dargestellt wird.
Die Erfahrungswerte aus vielen vorangegangenen Untersuchungen und Krankengeschichten und vielen ähnlichen bzw gleichen Signalalterationen, die in vielen Fällen zuvor auch biopsiert oder chirurgisch entfernt, histologisch aufbereitet wurden und zu einer endgültigen Diagnose führten, lassen eben in weiteren Fällen empirisch herleiten, dass es sich mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit um diesen oder jenen oder eben keinen Tumor handeln wird, ohne die Schädelkalotte (gleich) öffnen zu müssen.
Eine Restwahrscheinlichkeit bleibt in diesem alltäglichen Beispiel bis zum direkten Tumornachweis und –klassifikation durch Biopsie und Histologie natürlich bestehen.
[63] Beachte, ärztliches Handeln soll idR in der Gefährdungsbeurteilung ohne Wertung vorgenommen werden,
dh Ärztinnen und Ärzte müssen ihre eigenen Vorurteile und stigmatisierenden Vorstellungen, Befürchtungen und Sorgen gänzlich aus ihrer Beurteilung halten und nur zum Wohl der psychiatrisch Kranken entscheiden.
Dh sie müssen die Unterbringung bzw AOEV als allerletztes Mittel anwenden, weil ›in hohem Ausmaß an Wahrscheinlichkeit eine ernstliche und erhebliche Selbst- oder Fremdgefährdung‹ erwartet wird. Überzogene Angst und Fürsorge sind – wie im Detail bereits ausgeführt – kein Grund für den Eingriff und Einschränkung in die Grundrechte psychiatrisch Erkrankter.
[64] Bauer/Gruszniewski/Khawaled/Grinshpoon/Mark/Mester, Reflections on dangerousness and its prediction – a truly tantalizing task? Med Law (2002) 495.
[65] Man denke an die zahlreichen Beispiele, wie mit Big-Data treffende Prognosen gemacht wurden und werden.
[66] Beuth, „Schwanger ohne digitale Spuren“ http://www.zeit.de/digital/datenschutz/2014-04/big-data-schwangerschaft-verheimlichen (abgefragt am 18.01.2016).
[67] Lat.: »zwingende Gewalt« synon. willensbeugende bzw. willensbrechende Gewalt.
[68] Lat.: »absolute, unabdingbare Gewalt«; Gewalt, die eine freie Willensbetätigung oder Willensbildung vereitelt.
[69] Die Klischee-Vorstellung von paranoid Schizophrenen oder schüchternen, zurückgezogenen Psychopathen mit multipler Persönlichkeitsentwicklungsstörung, die von ihrem ›alter ego‹ zum Mord getrieben oder gar gezwungen werden, prägt aufgrund des Boulevard, zahlreicher Romane, Spielfilme und Hollywood-Klassikern wie »Psycho« von Alfred Hitchcock – zumindest unbewusst – die Laien-Vorstellung von unberechenbaren, unkontrollierbaren und gefährlichen psychiatrisch Kranken.
Fallvignetten finden sich auch in diversen medizinischen Lehrbüchern und können sehr wohl auch zu einer überzogene Vorstellung darüber bei Ärztinnen und Ärzten führen. Unbestritten ist, dass es solche Fälle gibt und auch immer geben wird. Aber sie sind nicht die Regel.
Natürlich gibt es selbst- und fremdgefährdendes Verhalten, das durch eine psychiatrische Erkrankung bedingt ist, wobei die stereotypen Fragen für eine Gefährdungsbeurteilung gem §3 UbG stets sein müssen:
(a) welches Verhalten führt konkret,
(b) zu welcher Gefährdung und tritt
(c) mit welcher Wahrscheinlichkeit auf?.
[70] Prüter, Zusammenhang zwischen Wahninhalt und Gewalt – gibt es stereotype Delikte bei Wahnkranken?, in Lammel/Sutarski/Lau/Bauer (Hrsg), Wahn und Schizophrenie: Psychopathologie und forensische Relevanz (2011) 101.
[71] Nochmals sei an dieser Stelle erwähnt, dass die Unterbringung gem §3 UbG eine Maßnahme ultimae rationis in der Behandlung psychiatrisch Erkrankter an einer psychiatrischen Abteilung ist und dass die Unterbringung keine Maßnahme des Maßnahmenvollzugs ist und der Begriff Unterbringung gem §3 UbG ›geistig abnorme Rechtsbrecher‹, ›dissoziale Delinquenten‹ oder ›Straftäter mit psychiatrischer Krankheit u/o Persönlichkeitsstörung mit hohem Rückfallpotential‹ ausklammert.
[72] Mit Querschnitt wird der aktuelle Zustand und die Situation bezeichnet, mit Längsschnitt die Entwicklung der Symptome bzw einer Krankheit im zeitlichen Verlauf.
[73] Siehe auch Fußnote 59.
[74] Prüter, (2011) 101.
[75] Bauer/Gruszniewski/Khawaled/Grinshpoon/Mark/Mester, (2002) 495.
[76] Bloom, The character of danger in psychiatric practice: are the mentally ill dangerous? Bull Am Acad Psychiatry Law (1989) 241.
[77] Mullen, Mental disorder and dangerousness. Aust N Z J Psychiatry (1984) 8.
[78] Nilsson/Munthe/Gustavson/Forsman/Anckarsäter, The precarious practice of forensic psychiatric risk assessments. Int J Law Psychiatry (2009) 400.
[79] Odeh/Zeiss/Huss, Cues they use: clinicians‘ endorsement of risk cues in predictions of dangerousness. Behav Sci Law (2006) 147.
[80] Mehr als 90% oder 99.9%?.
[81] OGH 19.12.2012, 7Ob218/12b.
[82] Es handelt sich um keinen Irrtum. Die Abkürzungen sind verwirrenderweise gleich.
[83] Siehe Fußnoten 57 und 58 und Seite 12.
[84] Walzer, Sphären der Gerechtigkeit: ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit (2006).
[85] Aristotheles (griech. Philosoph, 384 – 322 vor Chr): »Vor den Richter gehen, heißt aber, auf Gerechtigkeit ausgehen; denn der Richter soll gewissermaßen die lebendige Gerechtigkeit sein.«
[86] Affektlabil heißt, sehr einfach formuliert, dass starke Stimmungsschwankungen auftreten: Sie weinen, Sie schreien, Sie lachen.