Effektivität und Effizienz
Das Österreichische Gesundheitswesen. Teil 3: Über Effektivität und Effizienz
Ein offener Brief.
Die Beiträge des offenen Briefes:
Das österreichische Gesundheitswesen
- Teil 1: Downgrading | Apocalypto (online am 22.09.2023)
- Teil 2: Prolog | Medizin, Recht und Wirtschaftlichkeit (online am 23.10.2023)
- Nachwort zu Teil 1: Die Kunst des Herumwurschtelns | Teil 1a: Apocalypto, was noch gesagt werden muss (online am 06.09.2024)
- Teil 3: Effektivität und Effizienz (online am 20.09.2024)
- Teil 4: Wir schielen gerne auf Elite-Unis… (online am 04.10.2024)
- Teil 5: Organisationsverschulden (online am 18.10.2024)
- Teil 6: Der Honorarkatalog: eine wesentliche Stellschraube | Ich würde sofort einen Kassenvertrag annehmen, … (online am 08.11.2024)
- Teil 7: Die Pharmafalle (online am 29.11.2024)
- Teil 8: Datenausverkauf aggregierter Gesundheitsdaten (online am 13.12.2024)
Effektivität und Effizienz
Seit ich mich erinnern konnte, versuchte ich, Dinge so schnell und so gut wie möglich zu erledigen. Nichts ärgerte mich mehr als Leerläufe, Dinge suchen zu müssen oder Sachen mehrmals erledigen zu müssen, da ich diese nicht gleich auf Anhieb gut erledigt hatte. Ich lernte früh Ordnung zu halten, um nicht später sinnlos suchen zu müssen. Ich steigerte meine Effizienz.
Im Studium versuchte ich, viele tausende Seiten so rasch und so gut wie möglich zu lernen, das heißt, so gut, wie möglich zu verstehen. Im Seziersaal versuchte ich Nerven und Gefäße so rasch wie möglich zu finden, freizulegen und zu präparieren. Unter dem Mikroskop versuchte ich so rasch wie möglich kleinste Strukturen richtig zu identifizieren.
Der Aufbau und die Funktion unseres menschlichen Organismus sollten sich von der Mikroskopie über die Makroskopie, über die Chemie, Physik, Molekularbiologie bis hin zur Physiologie und Pathophysiologie zum großen, ganzem Gesamtbild zusammensetzen und Grundlage meines zukünftigen ärztlichen Handels werden.
Als wissenschaftlich denkende Ärzte und Ärztinnen denken wir „ganzheitlich“. Wir dürfen den Begriff „ganzheitlich“ nicht den Quacksalbern überlassen, die den Begriff „Ganzheitliche Medizin“ seit jeher nur missbrauchen.
Obwohl ich mich zum medizinischen Handwerk bekenne, bin ich seit jeher aber auch technikaffin. Dies ist an sich kein Widerspruch, wie dies sehr oft zu hören ist.
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Ich stehe dem Fortschritt und der Digitalisierung positiv gegenüber. Effektivität und Effizienz müssen aber stets gefordert werden, um unser sehr gutes österreichisches Gesundheitssystem in ein noch besseres, derzeit vielleicht noch visionär anmutendes österreichisches Gesundheitssystem umzubauen, in dem die Digitalisierung hilft Effizienz zu maximieren.
Ich nutze die Technik, insbesondere Computer, um mir das Leben zu erleichtern.
Ich sehne keine alten Zeiten herbei, in denen alles besser gewesen wäre. Wir Menschen neigen dazu, die Vergangenheit zu verklären und durch die rosarote Brille zu sehen.
Ich denke mit Erschaudern an die alte mechanische Schreibmaschine, mit der ich meine ersten Bewerbungsschreiben tippen musste, zurück.
Ich will moderne Textverarbeitung, Datenverarbeitung und Diktiersoftware nicht mehr missen, weiß aber vom Wert gedruckten Papiers, Tinte und eines Stempels. Sehr oft werden trotz aller Digitalisierung Papier und Tinte maßgeblich sein.
Technik kann und soll uns Ärzte und Ärztinnen unterstützen, um unseren Patienten und Patientinnen mehr Zeit und somit mehr Medizin bieten zu können.
Technik soll die Medizin noch effektiver und vor allem effizienter machen.
Technik soll uns den medizinischen Alltag erleichtern.
Technik darf uns den medizinischen Alltag nicht erschweren.
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Medizin – ein besonderes Handwerk
Von nichts kommt nichts.
- Medizin lernt man nicht durch eine App, sondern durch jahrelanges Lernen, viel Übung und klinische Arbeit. Gute Apps können, dürfen und sollen Unterstützung sein.
- Die richtige Diagnose stellt man nicht mit einer App, sondern nur durch jahrelanges Lernen, viel Übung und klinische Arbeit. Gute Apps können, dürfen und sollen Unterstützung sein.
- Jahrelanges Lernen, viel Übung und klinische Arbeit schulen den klinischen (diagnostischen) Blick und verbessern klinische Fertigkeiten am Krankenbett und im Operationssaal. Auch sehr gute Apps werden den klinischen Blick noch lange nicht ersetzen können.
Wir müssen unseren Patienten und Patientinnen zuhören.
Wir müssen unsere Patienten und Patientinnen angreifen, um sie zu begreifen.
Viele tausende, zehntausende Patienten und Patientinnen sind der Grundstock unserer klinischen Expertise und ärztlichen Erfahrung.
- Das heißt, dass wir Ärzte und Ärztinnen unseren Patienten und Patientinnen gezielt zuhören müssen und gezielt nachfragen müssen, um die Krankengeschichte – die sogenannte Anamnese – erheben zu können, ohne ihnen Worte in den Mund zu legen und uns damit nicht selbst auf die falsche Fährte zu locken.
- Und wir müssen unsere Patienten und Patientinnen sorgfältig untersuchen, um letztendlich die richtige Diagnose stellen zu können und die richtige Therapie einleiten zu können.
Ich habe keine Sorge, arbeitslos zu werden.
Künstliche Intelligenz wird mich – zumindest in absehbarer Zukunft – nicht ersetzen können.
Ich werde noch bis zu meiner Pension in zwanzig bis dreißig Jahren, sofern ich überhaupt noch eine Pension bekommen sollte, Arbeit haben.
Künstliche Intelligenz kann sicher besser rechnen als ich, aber sicher nicht besser untersuchen.
- Ich selbst brauchte einige Jahre, um meinem eigenen neurologischen Status und Anamnese-Technik voll und ganz vertrauen zu können.
Die meisten Diagnosen in der Medizin, insbesondere in der Neurologie, sind sogenannte klinische Diagnosen.
Dies bedeutet, dass die Diagnose klinisch, eben durch die Anamnese und klinische Untersuchung, gestellt wird.
Üblicherweise stützen apparative Zusatzuntersuchungen wie Laboruntersuchungen, Röntgen, Magnetresonanztomographie oder Computertomographie die klinischen Diagnosen, sind aber selbst selten beweisend.
In der Regel werden apparative Zusatzuntersuchungen aus klaren medizinischen Gründen empfohlen bzw. angeordnet, und nicht, weil irgendjemand online behauptet hat, dass eine solche Untersuchung unbedingt notwendig ist und Patienten und Patientinnen damit verunsichert.
Wir Neurologen und Neurologinnen werden oft gebeten, Bilder vom Kopf oder am besten gleich vom ganzen Körper zu machen. Schließlich befinden sich Nerven ja im ganzen Körper beziehungsweise können Schmerzen oder Sensibilitätsstörungen dort und da, von Kopf bis Fuß auftreten.
Es liegt an uns Neurologen und Neurologinnen, unsere Patienten und Patientinnen aufzuklären, dass apparative Untersuchungen ohne konkrete medizinische Fragestellung sinnlos sind. Untersuchungen ohne medizinische Indikation sind unnötig belastend, teuer und letztendlich meist ohne Aussagekraft.
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Gedankenexperiment
Ich bitte Sie, sich in folgendes Gedankenexperiment hineinzuversetzen: Ich bitte Sie, dass Sie vom Wiener Stephansdom ein paar gute Fotos machen.
Sie begeben sich zum Stephansdom Mitten im Herzen Wiens und beginnen einige Fotos mit ihrem Smartphone zu schießen. Von vorne, von hinten, von der einen, dann von der anderen Seite, sogar im Inneren, um möglichst viele Fotos aus vielen verschiedenen Ansichten zu haben. Sie wollen zumindest ein paar Fotos mitzubringen, die mir – dem Auftraggeber – gefallen oder zumindest in meine nähere Auswahl kommen könnten?
Ich gebe zu, dass „Bitte machen Sie ein paar gute Fotos vom Stephansdom“ eine vage Formulierung ist.
Der Stephansdom wird – wie Sie schon geahnt haben – aber sicher nicht zu Gänze auf den Fotos zu sehen sein. Der Stephansdom ist viel zu groß und der Stephansplatz rund um den Dom viel zu klein, dass der gesamte Stephansdom auf einem Foto Platz finden würde.
Und selbst wenn auf manchen Fotos die Turmkugel hoch oben in mehr als 130 Metern Höhe auf dem Südturm des Wiener Stephansdoms zu erahnen ist, wird sie vielleicht noch scharf, aber kaum so detailreich wie auf einer Aufnahme mit einem entsprechenden Teleobjektiv sein. Wobei Sie eine Kamera mit großem Teleobjektiv auch entsprechend ruhig halten oder ein Stativ verwenden müssten.
Ähnliches gilt für viele andere Motive des Stephansdoms wie die Portale, Reliefs, Wasserspeier und Dächer oder den Altar oder den Fenstergucker im Inneren der Kathedrale.
Sie können mehrere tausend Fotos schießen, aber nur ein paar wenige werden, wenn überhaupt in die nähere Auswahl kommen. Bevor Sie den Stephansdom zu fotografieren beginnen, sollten Sie wissen, welche Aufnahmen und Details abgelichtet werden sollen. Alles andere wäre reine Glücksache.
Das Resümee des Gedankenexperiments
- Sie müssen erkennen, dass Sie vorab einen konkreten Auftrag gebraucht hätten, kein vages „Bitte machen Sie ein paar gute Fotos vom Stephansdom“.
- Sie müssen erkennen, dass Sie mit einem konkreten Auftrag konkrete, gute und gestochen scharfe Aufnahmen gemacht hätten.
- Sie müssen erkennen, dass ein einziges gut geplantes und korrekt gemachtes Foto meist aussagekräftiger ist, als alle Fotos zusammen, die Sie „geschossen“ haben. Im Nachhinein erkennen Sie, dass eine gute Planung und Durchführung im Vorhinein Ihnen viel Zeit und Mühe gekostet hätte.
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Genauso verhält es sich mit Zusatzuntersuchungen in der Medizin. Diese entfalten ihre volle Aussagekraft erst, wenn sie angezeigt sind und gezielt eingesetzt werden, das heißt, wenn sie medizinisch indiziert sind.
Zusatzuntersuchungen ohne konkrete Fragestellung sind unnötig, sinnlos und teuer und wiegen oft nur in falsche Sicherheit.
Der Kern jeder Effektivität und Effizienz im Gesundheitssystem sind die medizinische Expertise und Fertigkeiten.
Je besser die Expertise und Fertigkeiten, desto besser die Effektivität und Effizienz.
Digitalisierung kann helfen die Effizienz zu steigern, kann aber ärztliches Handwerk nicht ersetzen.
Für Rückfragen und konstruktive Diskussionen stehe ich zur Verfügung.
Ihr
Fahmy Aboulenein-Djamshidian
Facharzt für Neurologie
P.S. ich habe als Mandatar der Ärztekammer für Wien mehrere Anträge verfasst und eingebracht als auch Artikel zu dieser Thematik verfasst:
- Kirk an Brücke:“ Beam me up, Scotty!“, Doktor in Wien (Mitteilungsblatt der Ärztekammer für Wien), Mai 2014
- Effektiv, aber nicht effizient, Doktor in Wien (Mitteilungsblatt der Ärztekammer für Wien), Dezember 2012
Es ist nicht wichtig,
wer bewirkt,
sondern dass bewirkt wird.