Die Pharma Falle, 2016 – 2024
Das Österreichische Gesundheitswesen. Teil 7: Medizin und Pharma
Ein offener Brief.
Die Beiträge des offenen Briefes:
Das österreichische Gesundheitswesen
- Teil 1: Downgrading | Apocalypto (online am 22.09.2023)
- Teil 2: Prolog | Medizin, Recht und Wirtschaftlichkeit (online am 23.10.2023)
- Nachwort zu Teil 1: Die Kunst des Herumwurschtelns | Teil 1a: Apocalypto, was noch gesagt werden muss (online am 06.09.2024)
- Teil 3: Über Effektivität und Effizienz (online am 20.09.2024)
- Teil 4: Wir schielen gerne auf Elite-Unis… (online am 04.10.2024)
- Teil 5: Organisationsverschulden (online am 18.10.2024)
- Teil 6: Der Honorarkatalog: eine wesentliche Stellschraube | Ich würde sofort einen Kassenvertrag annehmen, … (online am 08.11.2024)
- Teil 7: Die Pharmafalle (online am 29.11.2024)
- Teil 8: Datenausverkauf aggregierter Gesundheitsdaten (online am 13.12.2024)
Überblick | Blog-Inhalt
Transparenz und Pseudotransparenz
Auf die Frage, ob und wenn ja, was sich in den letzten acht Jahren seit der Veröffentlichung meines Buchs „Die Pharma Falle“ geändert hat, kann ich nur sagen, dass sich nicht viel geändert hat. Der Einfluss der Pharma-Industrie auf die Medizin und die öffentlichen Gesundheitssysteme ist nach wie vor ungebrochen. Nur der „Anstrich“ bzw. die „Etikette“ sind anders.
Ja, es scheint alles transparenter, aber
das heißt nicht, dass alles tatsächlich transparenter ist.
Die Transparenz, die Vielfach auf dem Papier steht und propagiert wird, wird bei näherer Betrachtung ihrem Namen kaum gerecht. Ich würde vielmehr von Pseudotransparenz sprechen.
Es gibt nämlich nach wie vor jene Verflechtungen der Industrie, die viele Ärzte und Ärztinnen als normal und üblich ansehen, die aber in vielen anderen Bereichen undenkbar wären.
Dies hängt sicherlich damit zusammen, dass der Gesundheitsbereich und die Medizin sehr komplex sind. Selbst Insider können den Gesundheitsbereich in all seinen Facetten weder zur Gänze überblicken noch durchschauen. Notwendige maßgebliche Änderungen werden sehr oft lange eben nicht als solche erkannt und deswegen oft nicht einmal diskutiert, geschweige denn durchgesetzt.
Die primären Interessen der Bevölkerung, die sich ihr Gesundheitssystem leistet, stehen den sekundären Interessen der Industrie gegenüber, die – und das sage ich völlig unvoreingenommen und vorurteilsfrei – ihre eigenen Interessen verfolgt bzw. verfolgen muss, um im freien Markt zu bestehen. Natürlich strebt jedes Unternehmen, so auch die Pharmakonzerne, nach Gewinn und Profit. Dies ist in einem freien Markt ihre Aufgabe.
Dies führt aber logischerweise zu einem Konflikt der Interessen, einem sogenannten Interessenskonflikt:
- Dies umso mehr, als die Industrie ihre Studien selbst initiieren, konzipieren, durchführen, bewerten und in entsprechenden medizinischen Journalen publizieren (lassen) kann.
- Dies umso mehr, als die Industrie Fortbildungsveranstaltungen sponsern oder sogar veranstalten, jedenfalls gestalten kann.
- Dies umso mehr, als die Industrie Ärzte/innen als auch medizinische Fachgesellschaften materiell bzw. finanziell unterstützen kann, womit an sich jede Unvoreingenommenheit, Urteilsvermögen und freie Entscheidungsfähigkeit (jedenfalls unbewusst) beeinflusst werden kann.
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primäre Interessen, sekundäre Interessen und deren Konflikte.
Wie gesagt, den wesentlichen primären Interessen – das sind bestmögliche Medizin und Versorgung der Patienten/innen und transparente und effiziente Verwendung des zur hierfür Verfügung stehenden Geldes – stehen zahlreiche gegensätzliche sekundäre Interessen gegenüber, die sogenannte Interessenskonflikte bedingen können.
Es braucht nicht immer Geld zu sein,…
Neben Geld und anderen materiellen Zuwendungen wie Übernahme von Fortbildungs- und Reisekosten etc. können auch immaterielle Werte, die den sozialen und insbesondere den akademischen Status verbessern können, sekundäre Interessenskonflikte sein (siehe zB Interessenskonflikte: Gefahr für das ärztliche Urteilsvermögen. Dtsch Arztebl 2008; 105(40): A-2098 / B-1797 / C-1757).
Eine mögliche Definition von Interessenskonflikten wurde bereits 1993 von Thompson eingeführt und im New England Journal of Medicine publiziert und diskutiert:
„A conflict of interest is a set of circumstances that are reasonably believed to create a substantial risk that professional judgment of a primary interest tends to be unduly influenced by a secondary interest.“
Understanding financial conflicts of interest. Thompson DF. N Engl J Med. 1993 Aug 19;329(8):573-6.
siehe auch (ausgewählte Referenzen):
- The new medical-industrial complex. Relman AS. N Engl J Med. 1980 Oct 23;303(17):963-70.
- Dealing with conflicts of interest. Relman AS. N Engl J Med. 1984 May 3;310(18):1182-3.
- Financial conflicts of interest in biomedical research. Kassirer JP, Angell M. N Engl J Med. 1993 Aug 19;329(8):570-1.
oder
Interessenkonflikte sind definiert als Gegebenheiten, die ein Risiko dafür schaffen, dass professionelles Urteilsvermögen oder Handeln, welches sich auf ein primäres Interesse bezieht, durch ein sekundäres Interesse unangemessen beeinflusst wird
(AWMF, Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V.; online, letzter Stand 13.07.2024)
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Wir dürfen uns, die Diskussion nicht kaputt reden lassen…
Die wichtige und notwendige Diskussion über Verflechtungen von der Medizin und Wissenschaft einerseits und der Industrie andererseits, die sogenannte Interessenskonflikte bedingen (können), reicht schon mehr als 40 Jahre zurück. Die Problematik ist aber trotz vieler Bemühungen und Änderungen nach wie vor ungelöst.
Die notwendige Diskussion darüber wird oft „verwässert“.
Jede neu aufkommende Diskussion oder Kritik darüber wird als unnötig und lächerlich – „als alter Wein in neuen Schläuchen“ – abgetan. Eine Einflussnahme der Industrie auf Ärzte/innen, Fachgesellschaften und Universitäten als auch die öffentliche Hand sei nicht mehr möglich, da alles transparent sei.Die Industrie hätte aus ihren Fehlern in der Vergangenheit gelernt und alles bereinigt. Kurzum, es gäbe keine problematischen Verflechtungen zwischen Medizin und Pharma-Industrie mehr, so die die Industrie und Lobbyisten.
Das solches behauptet wird, ist verständlich. Es geht um sehr viel Geld und niemand scheint „Staub aufwirbeln“ zu wollen.
Wir Ärzte/innen müssen selbst das Korrektiv sein
- Wir Ärzte und Ärztinnen müssen den Einfluss der Industrie erkennen und an uns abprasseln lassen.
- Wir Ärzte und Ärztinnen dürfen uns die notwendigen Diskussionen über etwaige Verflechtung von Medizin und Industrie nicht kaputtreden lassen.
- Wir Ärzte und Ärztinnen müssen selbst das Korrektiv sein.
Es geht nicht darum anzuklagen. Das ist gegebenenfalls Aufgabe der Strafverfolgungsbehörden.
Es ist Aufgabe von uns Ärzte und Ärztinnen aufzuzeigen und zu verbessern.
„Wer ohne COI* ist, werfe den ersten Stein.“
*COI, conflict of interest – Interessenskonflikt.
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Lösungsvorschläge
Ich habe nie verstanden und werde nie verstehen, warum keine klare, sauber und trennscharfe Grenzlinie zwischen Medizin und Industrie gezogen wird:
- Warum nicht alle Zuwendungen der Industrie ausnahmslos verboten sind?
- Und falls dies nicht möglich sein sollte, warum nicht jegliche Zuwendung an Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen im Gesundheitssystem nachvollziehbar in einem (leicht zugänglichen) öffentlichen Melderegister offengelegt werden kann?
- Warum nicht alle Ärzte und Ärztinnen, die Zuwendungen von der Pharmaindustrie erhalten, von Positionen, Funktionen und Aufgaben ausgeschlossen werden können, in denen sie allgemeine Diagnose- und Behandlungsleitlinien und -richtlinien beeinflussen könnten?
Diese Forderung gilt nicht nur für Österreich, sondern logischerweise international und wird von einigen gefordert.
- Warum die wichtigen klinischen Studien nicht von den großen Zulassungsbehörden – der EMA in Europa (European Medical Agency) und der FDA in den Staaten (Food and Drug Administration) – vollständig und zwar als notwendige direkt vergleichbare Kopf-an-Kopf-Studien (head-to-head-trials) konzipiert und durchgeführt werden können?
Das Geld für diese Studien würden die jeweiligen Pharmafirmen, die ihr Präparat auf dem europäischen oder amerikanischem Markt zugelassen haben wollen, direkt an die Zulassungsbehörde bezahlen.
Die Pharmafirmen würden so auch nicht mehr Geld ausgeben, als sie derzeit für ihre Zulassungsstudien aufwenden müssen. Die Pharmafirmen würden dann ihre Studien nicht mehr selbst konzipieren, durchführen und auswerten lassen.
Der wesentliche Unterschied ist, dass bei tatsächlich unabhängigen Studien die Auftraggeber, die mit ihrem Produkt, das sie für den Markt zugelassen haben möchten, um Geld zu verdienen, keinen Einfluss auf die Studien ausüben können. Für viele Produkte (Lebensmittel, Technik etc.) sind unabhängige Prüfungen obligat.
Wir müssen uns endlich (international) folgenden wichtigen Fragen stellen:
- Warum für Klinische Studien und Anwendungsbeaobachtungen, die von der Pharmaindustrie finanziell unterstützt werden, überhaupt ein sogenannter Impact-Factor gegeben wird, womit die Studienautoren und Studienautorinnen auch eine sogenannte immaterielle Zuwendung bekommen, das heißt ihr soziales Ansehen durch mögliche Titel und Einfluss steigen können (siehe oben Thompson et al)?
- Warum die Universitäten das Einwerben von Drittmitteln von der Industrie von ihren wissenschaftlichen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen (in Qualifikationsvereinbarungen) quasi einfordern und sohin eine direkte Abhängigkeit von ihren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen schaffen, da sie ihre universitäre Karriere davon abhängig machen?
- Warum nicht endlich ein von der Pharmaindustrie gänzlich unabhängiges Fortbildungskonto für alle Ärztinnen und Ärzte geschaffen wird? Nachdem die Fortbildungsverpflichtung für alle Ärzte und Ärztinnen gleich ist, sollte auch das Fortbildungskonto für alle gleich sein.
- Warum der notwendige peer-review (Begutachtungsprozess) wissenschaftlicher Arbeiten nicht ausnahmslos nach dem Begutachtungsprozess inklusive Gutachten und Gutachtern/innen transparent offengelegt und veröffentlicht wird? Dies auch, wenn wissenschaftliche Arbeiten von einem Journal abgelehnt werden.
- und vieles anderes mehr.
Einige weitere Fragen und Lösungsvorschläge finden Sie im letzten Kapitel meines Buchs Die Pharma Falle, das 2016 erschienen ist.
Als Mandatar der Ärztekammer versuchte ich bespielsweise ein unabhängiges Fortbildungskonto für alle Ärzte und Ärztinnen zu diskutieren und zu erwirken…
Leseprobe (Kapitel 1, Die Pharma Falle, 2016):
Die Pharma Falle
Ein heikles Kuvert
Unterwegs durch die Stadt nahm ich die Einladung aus meiner Jackentasche. Die Sitzung war für 18 Uhr angesetzt. Ein Blick auf die Uhr zeigte mir, dass ich bereits zu spät dran war. Ich war wohl doch nicht rechtzeitig vom Spital losgegangen. Die Ambulanz für entzündliche Erkrankungen des Nervensystems war heute wie an so vielen Tagen übervoll gewesen.
Ich musste mich beeilen. Jetzt hatte es auch noch zu regnen angefangen und ich hatte keinen Regenschirm dabei.
Dennoch war ich guter Dinge, denn ich war neugierig auf das vor mir liegende Treffen. Ich war zum ersten Mal zu einer Expertensitzung eines großen Pharmakonzerns eingeladen. Wir, das heißt die geladenen Ärzte und ausgewiesene Experten in der Behandlung von Multiple Sklerose Patienten, sollten im Rahmen dieser Veranstaltung über das von dem Konzern vertriebene Medikament diskutieren, unsere Erfahrungen und eben Expertise einbringen.
Ziemlich nass vom Regen erreichte ich das 5-Sterne Hotel inmitten der prächtigen Pracht- und Prunkbauten der Wiener Innenstadt, dessen Adresse auf der Einladung stand. Im prächtigen Foyer ging es geschäftig zu. “Sie werden bereits erwartet. Hier entlang bitte”, sagte eine der Empfangsdamen, nachdem ich ihr meine Einladung gezeigt hatte. Ich sah zum ersten Mal ein großes Schild vor dem glamourösen Stiegenaufgang auf dem groß der Name des Konzerns und die Ankündigung der Titel der Veranstaltung stand: „advisory board – Expertengremium, im großen Kongresssaal im 1. Stock.“
Die goldgerahmte Gemälde und Spiegel und das ebenfalls goldene Schild mit der Aufschrift “Konferenzsaal” neben einer doppelflügeligen Tür und das ganze noble Ambiente gaben mir zu denken. Vielleicht hätte ich doch einen Anzug anziehen und eine Krawatte umbinden sollen, dachte ich.
Vor der Tür des Konferenzraumes stand ein bulliger Mann, der meine Einladung sehen wollte. Wortlos überprüfte er sie. “Guten Abend”, sagte er danach und wies mir den Weg durch die große Doppelflügeltüre.
Drinnen waren auf kleinen Stehtischen Imbisse und Getränke vorbereitet. Meine Kollegen waren bereits da und allesamt sehr formell gekleidet. Ich fühlte mich in meiner Lederjacke und meinen Jeans zwar nicht unwohl, aber irgendwie fehl am Platz. Ursprünglich hieß es, dass ausgewählte Experten ihres Fachs eingeladen werden, in einem kleinen, informellen Rahmen über Nutzen und Risiko des bereits sehr lang etablierten Medikaments zu sprechen. Der Konzern hätte nur den Rahmen geschaffen, dass wir aus ganz Österreich eben hier in Wien zusammentreffen können. Bei einem Expertenaustausch und Diskussion sollte die Etikette gewöhnlich zweitrangig sein.
Ich begrüßte die Kollegen, die zum Teil lange Anreisen in Kauf genommen hatten, und sah mich nach Dr. Elisabeth Hardt um, die ebenfalls auf der Gästeliste stand, konnte sie aber nicht entdecken. Sie war nicht aus Wien. Die „neurologische Szene in Österreich“ ist klein und überschaubar. Es gibt nur wenige Experten, die auch als „Meinungsbildner“ fungieren. Sie war eine davon. Eine der wenigen Frauen, die in Österreich bekannt sind. Von den zehn geladenen Experten waren nur zwei davon Frauen. Zwei Kollegen von uns waren als Sitzungsleiter der „unabhängigen Expertenrunde“ nominiert.
Währenddessen trat ein drahtiger Mann mit einer großen Hornbrille in die Mitte des Raumes. Er redete mit einer eindringlichen und tiefen Stimme, die ich ihm nicht zugetraut hätte. “Frau Dr. Hardt hat sich aus gesundheitlichen Gründen entschuldigen lassen”, sagte er. “Meine Damen und Herren, wir sind damit vollzählig. Bitte folgen Sie mir.”
Er führte uns in ein Zimmer mit einem länglichen Besprechungstisch. Auf jedem Platz gab es ein Namensschild und Unterlagen. Auf den Unterlagen lag jeweils ein weißer, großformatiger Umschlag, in dem ich noch weitere Informationen zur Expertensitzung vermutete. Die meisten Kollegen steckten aber ihren Umschlag ungeöffnet in ihre Taschen, manche riskierten einen kurzen Blick, wobei ihre Augen strahlten und sich in ihrem Gesicht ein leichtes Lächeln breit machte. Ich war mir nun sicher, dass in den Umschlägen Honorarnoten waren und griff meinen Umschlag nicht an. Genau in dieser Situation trat einer der anwesenden und mir schon seit Jahren bekannten Pharmareferenten an mich heran und fragte mich, ob ich nicht zumindest nachsehen wollte, bevor ich ablehne, das Geld zu nehmen.
Ich sagte ihm, dass ich dabei bleibe, kein Geld von irgendeiner Firma zu nehmen und letzten Endes der Einladung auch nur unter der Bedingung folgte, kein Geld für meinen Aufwand zu bekommen. Er hakte nach: „Sehen sie doch, die anderen nehmen es ja auch. Es ist doch nur legitim, dass wir ihre Zeit, ihre Kosten und auch für ihren geschätzten Beitrag hier bezahlen dürfen.“ und weiter: „Wollen Sie nicht zumindest nachsehen, was sie sich entgehen lassen?“
Ich dankte ihm nochmals und übergab ihm das Kuvert, woraufhin er meinte: „Es sind ja ohnehin nur 1500 Euro. Es wäre das Mindeste für ihre Teilnahme an der Sitzung. Sie brauchen nur mehr ihre Kontonummer eintragen, die Honorarnote unterschreiben und abzuschicken. Es wäre alles rechtens. Nach der Steuer bleibt ohnehin nicht mehr viel übrig. Es ist nur ein kleines Dankeschön, nicht mehr.“
Ich bedankte mich und lehnte nochmals eindringlich ab: „Nein, wirklich nicht, dies war nicht vereinbart. Ich sagte Ihnen ja nur zu hier teilzunehmen, wenn ich meine Unabhängigkeit behalten darf, und wenn ich Geld annehme verliere ich meine Unabhängigkeit.“
Er hob die Augenbrauen. Offenbar hatte ich die Routine derartiger Begegnungen gestört, und fragte nochmals nach: „Wirklich nicht? Sind sie wirklich auch hier in einem solchen Rahmen so strikt?“
Ich nickte kurz, woraufhin er lächelte und lapidar meinte: „Kein Problem, überlegen sie es sich noch. Sie können und sollen darüber noch nachdenken. Vielleicht denken sie später anders darüber. Sie müssen es mir auch nicht heute sagen.“ Endlich dreht er sich um, ging zu seinem Platz und steckte „meinen“ Umschlag zu seinen Unterlagen.
Das kurze Gespräch hinterließ einen eigenartigen Eindruck in mir. Konnte es sein, dass unsere Aufgabe hier einzig darin bestand, hier wie handlungsunfähige Statisten in einem schönen, noblen Ambiente anwesend zu sein? Konnte es sein, dass wir hier nur anwesend sein sollten? Was sollte es denn anderes bedeuten, bereits vor erbrachter Leistung ein Honorar zu bekommen? Ich fing an, den Sinn und Zweck der sogenannten Expertensitzung zu hinterfragen, bevor sie eigentlich begann. Ist der Rahmen, das ganze Drumherum, nur eine wunderschöne Verpackung, die in Wirklichkeit nur dazu dient, Ärzte zu beeinflussen und die Verkaufszahlen eines Medikaments in die Höhe schnellen zu lassen? Einen anderen Zweck sah ich ab diesem Zeitpunkt nicht mehr. Ich war einer von zehn geladenen Ärzten, die ein fürstliches Honorar für zirka drei Stunden Teilnahme an dieser Sitzung bekommen sollten. Was sollte wohl an dieser Expertensitzung so wichtig sein, dass sich der Pharmakonzern dies vermutlich zehntausende Euro kosten ließ?
Eigentlich hatte ich mich über die Einladung gefreut und mich, wie ich mir jetzt eingestand, sogar ein wenig geehrt gefühlt. Ich glaubte, dass die Einladung deswegen an mich ergangen wäre, weil ich Spezialist für Multiple Sklerose war. Es hatte natürlich auch meinem Ego geschmeichelt. Doch vor allem hatte mich der Wunsch hierher hergeführt, etwas Sinnvolles zu tun, mich mit meinen Kollegen aus ganz Österreich austauschen zu können und diskutieren zu können, sohin lernen zu können und in Zukunft auch meine Patienten besser behandeln zu können. Von allen Dummen scheine ich aber der Dümmste gewesen zu sein, geglaubt zu haben, dass es sich hier um ein tatsächlich „unabhängiges“ Expertengremium handelte. Ich bin dem Pharmakonzern aufgrund meiner Neugierde und Eitelkeit voll auf den Leim gegangen.
Das Unternehmen wollte mich also für meine „unabhängige Experten-Meinung“ bezahlen. Ich fühlte mich, obwohl ich nichts angenommen hatte, „irgendwie gekauft“ beziehungsweise zumindest „verkauft“.
Vielleicht sah ich ja alles zu dramatisch.
Der Leiter der Forschungsabteilung des Pharmakonzerns eröffnete mit einem Impuls-Referat. Er lobte das zur Diskussion stehende Medikament und präsentierte zahlreiche Studien, die seine Worte bestätigen sollten. Und ja, es stimmt, dass das Medikament sich in der Behandlung von Multiple Sklerose Patienten in den letzten Jahrzehnten gut bewährt hatte. Auch ich hatte mit dem Medikament im Wesentlichen gute Erfahrungen gemacht und viele Patienten in den letzten Jahren darauf eingestellt.
Der Leiter der Forschungsabteilung des Pharmakonzerns ging jetzt aber sogar so weit, dass er aus den Studienzahlen ableiten wollte, dass das Medikament sehr früh eingesetzt werden kann – früher als jedes andere Konkurrenzprodukt, weil ja der Nutzen hoch und mögliche Nebenwirkungen sehr gering seien. Er betonte immer wieder, dass das Medikament sicher ist. In anderen Worten und überspitzt formuliert, könnten wir Ärzte frei nach dem Motto „Hilft’s nichts, schadet’s nichts“ im Gießkannenprinzip das Medikament sehr großzügig verschreiben. Aus der Sicht des Konzerns kann man „verschreiben“ mit „verkaufen“ gleichsetzen
Ich fing an, über das besagte „Gießkannenprinzip“ eine gegensätzliche, sehr kontroversielle Diskussion zu führen, nämlich dass ich es sehr wohl bedenklich halte, jeden Patienten immer und sofort medikamentös zu behandeln. Ich plädierte wie so oft für eine individuell maßgeschneiderte Therapie und in jedem Einzelfall mit den Patienten gemeinsam abzuwägen, ob wir mit einer medikamentösen Therapie beginnen sollten und wenn ja, mit welcher. Ich sagte klar heraus, dass das Interesse des Konzerns sein Medikament im Gießkannenprinzip über möglichst viele Patienten drüberzuschütten durchaus legitim sei, dass es aber an uns Ärzten läge, kritischer Gegenpol zu sein, die Daten selbst zu interpretieren und mit unserem Erfahrungsschatz abzugleichen und selbst zu entscheiden. Die Stimmung kippte. Die Mehrheit meiner Kollegen schloss sich nicht nur meiner Meinung an, sondern sie bestätigten vielmehr, dass sie ebenfalls bei ihren Patienten sehr sorgfältig und sicher nicht im „Gießkannenprinzip“ Medikamente verschreiben würden.
Als der Forschungsleiter und die anwesenden Pharmareferenten des Konzerns unruhig wurden, ergriff der Sitzungsleiter, das heißt einer unserer Kollegen, das Wort und meinte, dass uns die Diskussion entglitten sei und dass wir uns doch wieder auf das Wesentliche konzentrieren müssen und nicht vergessen sollten, wer dieses Treffen hier organisiert hatte und uns eingeladen hatte und dass wir zumindest als „Gebot der Höflichkeit“ das Medikament unseres Gastgebers nicht schlechtreden sollten“. Mit ernstem Gesicht kam er nun zum Punkt. Das Medikament ist ein sehr gutes und lang bewährtes Basistherapeutikum mit sehr guter Wirksamkeit, wie wir alle aus den Studien und vor allem unserer Praxis wissen und auch hier festgestellt haben”, sagte er. “Das Problem sind die neuen modernen anderen Medikamente der Konkurrenz. Diese neuen modernen Medikamente lassen den Markt für das Medikament unseres Gastgebers einbrechen.“
Genau in diesem Moment war ich froh und dankbar vor Beginn dieser Expertenrunde, den großformatigen weißen Umschlag, in dem die Honorarnote enthalten war, zurückgewiesen zu haben.
Nein, ich hatte die Sache nicht zu dramatisch gesehen.
Es ging hier nicht um Fachwissen, sondern um Marktanteile. Ich verschrieb das betreffende Medikament regelmäßig, und obwohl es vergleichsweise kostengünstig war, setzte der Hersteller allein durch meinen Verschreibungen an die 1400 Euro Euro pro Patient und Monat um, das heißt zehntausende, vielleicht auch hunderttausende Euro pro anwesendem Experten und Monat. Insofern waren die Ausgaben für das noble Meeting hier ein Klacks.
Jetzt ärgerte ich mich über meine Naivität. Fachwissen? Das interessierte hier scheinbar keinen. Die Diskussion wäre wahrscheinlich genau die gleiche gewesen, selbst wenn die Konkurrenzprodukte doppelt so gut gewirkt, weniger Nebenwirkungen hätten und auch nur die Hälfte gekostet hätten. Wir sollten das Medikament weiterhin großflächig und sehr frühzeitig verschreiben. Dem neuen Produkt der Konkurrenz sollten wir möglichst keine Chance geben. Wir sollten das Medikament des Gastgebers „in höchsten Tönen“ loben, ohne über die Medikamente der Konkurrenz schlecht zu reden, und unser Lob natürlich „wissenschaftlich“ untermauern. Was hier stattfand, war und ist aus meiner ganz persönlichen Sicht nichts anderes als ein „getarnter Bestechungsversuch“. Zumindest wüsste ich nicht, wie ich dies sonst nennen sollte. Das wissenschaftliche Drumherum sollte doch nur den „objektiven Anstrich“ garantieren?
Nach der Sitzung plauderte ich noch eine Weile mit meinen Kollegen an den Stehtischen. Neuerlich kam der Pharmareferent mit dem weißen, großformatigem Umschlag lächelnd auf mich zu. “Sie brauchen sich deshalb keine Gedanken zu machen. Warum haben Sie ein schlechtes Gewissen? Am Ende bekommt das Geld noch jemand, der gar keine Ahnung hat”, sagte er. Seine Worte brannten sich in der Sekunde ein, in der sie ausgesprochen waren. Ja, ja wir verraten uns alle sehr oft durch unsere Sprache. Er scheint doch über uns Ärzte anders zu denken, als er stets vorgab. Wir – die Experten – scheinen für ihn tatsächlich nur Statisten zu sein, die gar keine Ahnung haben brauchen. Es scheint auszureichen, dass wir hier in einem formellen Kreis zusammenkommen und als Expertengremium einem Impulsreferat des Pharmakonzerns lauschen, nachher ein bisschen plaudern und vor allem das Medikament und den Pharmakonzern beweihräuchern und dafür einen Umschlag mit einer üppigen Honorarnote bekommen. Anscheinend war es für ihn ganz normal, dass Ärzte Geld bzw. Honorarnoten in Umschlägen von ihm entgegen nehmen. .
“Nein danke, immer noch nicht. Ich halte das für moralisch bedenklich. Sie brauchen mir auch nichts mehr anbieten.”, sagte ich.
Er lachte aufgesetzt und versuchte Contenance zu wahren. Nervös spielte er mit dem Umschlag.
Zwei Wochen später erhielt ich die Druckfahne einer Publikation zugeschickt, die der Konzern, der die Experten-Sitzung in dem fünf Sterne Hotel organisiert hatte, herausgeben wollte. In der Hochglanzbroschüre ging es um die Ergebnisse unserer Expertensitzung. Die Broschüre titelte unter anderem mit „Praxisorientierte Empfehlungen von Meinungsbildnern“. Ferner ist an anderer Stelle zu lesen, dass die in dieser Publikation dargestellten Empfehlungen das Wissen und die Erfahrungen der teilnehmenden Ärzte darstellen und dass die Publikation dieser Broschüre durch die finanzielle Unterstützung des Pharmakonzerns ermöglicht würde.
In der Broschüre fand ich unter der Rubrik „Statements aus der Praxis“ Fotos von mir und allen anderen Kollegen, die an der Expertensitzung teilnahmen und diverse Statements. Ich verstand ein weiteres Mal die Welt nicht mehr, da kein einziges der Statements zu der sehr kontroversen Diskussion passte, die wir führten. Ich konnte mich jedenfalls nicht erinnern, solche Statements bei dieser Expertensitzung gehört zu haben.
Unter anderem fand ich bei meinem „Statement aus der Praxis“ angeführt, dass die gute Verträglichkeit und hohe Sicherheit einen sehr frühzeitigen Therapiebeginn möglich mache, da schwere Nebenwirkungen nicht auftreten. Und dass ich bei weniger sicheren Therapieoptionen mit einer sehr frühzeitigen Therapieentscheidung sehr zurückhaltend wäre.“
Im allerersten Moment dachte ich sogar noch, dass hier eine Verwechslung vorliegen müsste mein Porträtfoto und mein Name falsch eingefügt wurden. War es aber nicht.
Ich begann mich zu ärgern, denn „mein Statement aus der Praxis“, schön unterlegt mit einem Porträtfoto und natürlich mit Bildunterschrift von mir war genau das Gegenteil von dem, das ich bei der Sitzung gesagt hatte, und das ich auch bei jeder anderen Gelegenheit öffentlich sagte und auch schrieb. Ich trat und trete stets für die individuell maßgeschneiderte Therapie meiner Patienten ein. Dafür, dass sich Ärzte jeden Patientenfall genau ansehen und sehr sorgfältig abwägen und entscheiden, ob und wenn ja, mit welchem Medikament eine Behandlung notwendig ist, oder ob kontrolliertes Zuwarten möglich ist. Dies umso mehr, da viele Medikamente beträchtliche Nebenwirkungen haben, und ich ein „Gießkannenprinzip“ für gefährlich und nicht gerechtfertigt sehe. Dies wussten auch die Verantwortlichen des Pharmakonzerns, der diese Expertensitzung organisiert und bezahlt hatte.
Ich verlangte, dass die Herausgeber der Broschüre „mein Statement aus der Praxis“ entsprechend korrigieren sollte, und auch, dass sie anführen, dass ich keine finanzielle Unterstützung von dem Pharmakonzern bekommen habe. Ferner bat ich die Teilnehmerliste auf der Titelseite zu korrigieren, da die entschuldigte Kollegin ebenfalls darauf zu finden war. Schließlich regte ich noch an, etwaige Interessenskonflikte aller Teilnehmer offenzulegen, das heißt anzuführen, wer ein Honorar oder andere Vergütung für seine Teilnahme an dem unabhängigen Expertengremium bekommen hatte. Eine solche Offenlegung, die sogenannten disclosures, sind in der Wissenschaft üblich. Also sah ich nicht ein, warum dies bei dieser Broschüre „unabhängiger“ Experten nicht sein sollte.
Als ich schließlich die endgültige Version bekam, war mein Name aus der Teilnehmerliste und mein „Statement aus der Praxis“ samt meinem Porträtfoto verschwunden.
Dafür fand ich nun ein neues „klinisches Statement aus der Praxis“ in der Broschüre zu finden – jenes der Kollegin Dr. Elisabeth Hardt. Zumindest war ihr Name nun von der Teilnehmerliste genommen worden und angeführt, dass sie verhindert war und deshalb bei der Expertensitzung nicht anwesend war.
Ihr „klinisches Statement aus der Praxis“ war meinem nunmehr entferntem Statement zum Verwechseln ähnlich.
Die Pharma Falle
Fahmy Aboulenein*, Verlag: edition a; 1. Auflage (9. April 2016; ISBN-10: 399001157X; ISBN-13: 978-3990011577
*Anmerkung: auf Anraten des Verlages musste der zweite Teil meines Doppelnamens vom Buchtitel gestrichen werden. Mein Name wäre zu kompliziert.
Das Foto: Die Pharma Falle, (c) 2023, fahmy.blog (cover: credit edition a)
P.S. Falls Sie Ihre Ausgabe der Pharma Falle signiert haben möchten, können Sie mich gerne über das Kontaktformular kontaktieren oder mir gerne eine Email schreiben.
Nachsatz
Die meisten Menschen, die schlecht über das Buch „Die Pharma Falle“ sprechen, haben das Buch nach eigenen Angaben selbst nie gelesen. Auch einzelne wenige Ärzte (aber auch Ärztinnen) verwiesen darauf, das Buch die Pharma Falle nicht lesen zu müssen, da sie ohnehin wüssten, was drinnen stehen würde. Ein paar Überschriften und Passagen zu überfliegen, hätten ausgereicht, um sich ausreichend und umfassend über den Inhalt zu informieren.
Dieses Muster finden wir nicht nur in der Medizin, sondern in vielen anderen Lebensbereichen auch, und es ist stets gleich:
Nämlich ein paar Überschriften zu überfliegen, daraus voreilig Schlüsse zu ziehen und sich zu empören. Und wenn sich viele empören, passt es ja zur eigenen Empörung, ohne weiter über das Gesagte nachdenken zu müssen und zu reflektieren.
Denn manche hätten sich selbst – ihr eigenes Tun – in den einzelnen geschilderten Episoden in der Pharma Falle erkennen müssen, wenn sie das Buch nur gelesen hätten. Oder auch gelesen hatten und im Nachhinein behaupteten, auch nie mehr als den Klappentext gelesen zu haben, um nicht selbst Rede und Antwort stehen zu müssen.
Dies alles wäre nicht weiter von Bedeutung, wenn manche wenige nicht nur über den Inhalt des Buches und seinen Autor schlecht gesprochen hätten, sondern auch den Autor der Pharma Falle der Lügen, oder zumindest maßlosen Übertreibung denunziert hätten, um sich abermals selbst zu belügen und in Wirklichkeit von sich abzulenken und ihre Unschuld zu beteuern (Anm.: Einiges davon reicht(e) an Kreditschädigung und an Verleumdung und vieles war selbst erfunden oder gelogen.).
Außerdem wollten sie dem Autor durch den Kauf des Buchs kein Geld in den Rachen werfen (sic O-Ton)! Manche verlangten sogar ein Gratis-Exemplar, um sich diesen Schund nicht kaufen zu müssen.
All das hatte mich 2016 nicht verwundert, ist es doch eine zutiefst menschliche Reaktion und verständlicher Abwehrmechanismus.
Einige fühlten sich eben ertappt und verstanden die Welt nicht mehr, ist es doch jahrelange alltäglich geübte Praxis. Jede/r tut es. Und wenn es alle tun, dann wird es schon richtig sein. Jedenfalls handelt man selbst nicht anders als andere und wenn alle falsch liegen würden, wäre es ja dann auch nicht so schlimm, wenn man selbst falsch liegen würde. Im Gegensatz zu manch‘ anderen , die sich teils in meinem Buch zu erkennen glaubten, blieb ich fair: ich habe nocht alles erzählt, das hätte erzählt werden können.
Schön war aber zu sehen, dass die überwiegende Mehrheit anders dachte als die paar Wenigen, die sich lautstark empörten oder hinterrücks Lügen verbreiteten, um von sich selbst abzulenken.
Viel, viel mehr Menschen bedankten sich für das Buch und bestärkten mich weiter zu machen. Darunter waren auch – und dies freut mich besonders – viele Ärzte/innen verschiedenster Fachdisziplinen und auch einige Pharmareferentinnen und Pharmareferenten.
Dafür möchte ich auch auf diesem Weg nochmals Danke sagen.
Ihr
Fahmy Aboulenein-Djamshidian
Facharzt für Neurologie
P.S. Falls ich doch noch einen zweiten Teil der Pharma Falle schreiben sollte, würde ich doch noch einige Geschichten, die ich bislang verdrängt habe, erzählen und ein paar Exemplare an die Behörden senden.
Siehe auch: "Wo woar mei Leistung?"
„Wo woar mei Leistung?“
„Disclosure is not enough“ oder österreichisch: „Wo woar mei Leistung?*“ * Vor ein paar Jahren hatte sich dieser unrühmliche Satz […]