Apocalypto
Das Österreichische Gesundheitswesen. Teil 1: Downgrading
Ein offener Brief.
Ich kann mich noch gut erinnern, als ich 2004 auf der Spitze der großen Stufenpyramide in Tikal in Guatemala gesessen bin. Ich war über dem Dach des Dschungels. Über mir waren nur mehr der Himmel und Vögel, die ihre Kreise zogen. Vögel zwitscherten, Affen kreischten und Grillen zirpten. Unter mir war grünes Blätterwerk, soweit mein Auge reichte.
Die Sonne ging langsam unter, als plötzlich Mel Gibson ebenfalls die Spitze der Pyramide erklommen hatte. Er holte sich wahrscheinlich Inspirationen für seinen Film Apocalypto, der Ende 2006 weltweit in den Kinos anlaufen sollte.
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Ich erlaube mir einen kurzen Rückblick:
Der Weg nach Tikal inmitten des weiten mittelamerikanischen Dschungels war beschwerlich. Im Süden Mexikos – ca. 100 km von der Grenze zu Guatemala entfernt – begegnete ich ein paar anderen Reisenden aus Holland, den USA und Australien, und auch einem Kanadier.
Je tiefer wir mit den Jeeps in den Dschungel Richtung dem Río Usumacinta, dem Grenzfluss zwischen Mexiko und Guatemala, kamen, desto mehr schienen wir instinktiv zusammen zu rücken. Wir kannten einander nicht, waren aber eins. Wir waren nämlich alle gleich fremd an diesem schönen, aber für uns unberechenbaren und gefährlichen Ort im dichten Dschungel Mittelamerikas.
Wir verstanden die Einheimischen nicht. Und die Einheimischen verstanden uns nicht. Die Einheimischen wussten nur, dass wir Gringos nach Guatemala wollten. Die einen wollten nach Tikal, die anderen nach Guatemala-City oder sonst wohin. Die Gringos brachten nicht viel, aber gutes Geld. Die Devise unserer Guides schien, die Gringos sicher und rasch, aber vor allem unbeschadet zu ihrem Ziel zu geleiten.
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Die Szenerie am Río Usumacinta war unwirklich, merkwürdig anmutend, nahezu bizarr. Die Boote waren klein und schaukelten bereits ohne Passagiere stark im Wasser. Die Bootsleute deuteten auf Krokodile am anderen Ufer, um uns im nächsten Moment die Plätze in den Booten zu zuweisen.
Ohne viel weitere Worte verlieren zu müssen, die wir ohnehin nicht verstanden hätten, ermahnten sie uns mit mit einem kurzem Wink auf die Krokodile, sitzen zu bleiben und keinesfalls aufzustehen, damit niemand ins Wasser fällt oder gar ein Boot zum Kentern bringt. Ich kam neben zwei Australiern – John und einem, den alle Cowboy nannten – zu sitzen. Sam, ein Kanadier, saß mir gegenüber.
Wir tuckerten langsam am Río Usumacinta dahin. Unser Boot schaukelte im Wellengang, aber weniger als zuvor noch an der Anlegestelle.
Just in dieser Situation begann Sam eine Wunde am Oberschenkel von John zu versorgen. Sam und John baten mich zu helfen. Die Wunde eiterte und klaffte leicht.
John hatte sich zwei Wochen zuvor beim Tauchen an der Pazifikküste von Mexico mit einer Harpune verletzt.
Irgendwo am Weg hierher wurde er in einem kleinen mexikanischen Spital notdürftig versorgt. Dort hat er auch ein Antibiotikum – Trimethoprim – erhalten. Trimethoprim ist uralt, an sich nur mehr schwach antibiotisch wirksam und vor allem spottbillig. Trimethoprim wird üblicherweise, wenn überhaupt gegen einfache Harnwegsinfekte verwendet. Durch HIV fand Trimethoprim aber noch in der modernen Medizin einen Platz. In Kombination mit Sulfamethoxazol ist es unverzichtbar in der Behandlung von Pneumocystis – Lungenentzündungen . Pneumocystis jirovecii ist an sich ein harmloser Pilz, der aber Immungeschwächten, insbesondere HIV-Patienten:innen gefährlich werden kann.
Eine Wirkung von Trimethoprim auf die tiefe Wunde in Johns Oberschenkel konnte und durfte nicht erwartet werden. John ahnte dies, aber er kannte sich medizinisch nicht aus. Außerdem hätte John nur zwischen Penicillin und eben Trimethoprim in dem kleinen mexikanischem Spital wählen können. Da John gegen Penicillin allergisch war, musste er Wohl oder Übel Trimethoprim einnehmen. Trimethoprim wirkte aber nicht, wie an der eiternden Wunde seines Oberschenkels deutlich zu sehen war.
Sam nahm ruhig Desinfektionsmittel, ein Skalpell, Nadel, Faden und Pinzette und Verbandsmaterial aus seinem Rucksack. Er legte sich alles ordentlich zurecht. Das Boot tuckerte dahin.
Sam war RN (EC) – Registered Nurse Extended Class.
Registered Nurse Extended Class heißt, dass Sam ein diplomierter Krankenpfleger in Kanada war. Sam war eine Nurse, wie er stolz über sich sagte.
John hielt die Instrumente über der Flamme seines Feuerzeugs, bevor wir dann wie in einem schlechten Abenteuerfilm seine Wunde auf diesen schaukelnden Boot versorgten. Sam führte das Kommando.
Ich gab John dann auch noch mehrere Päckchen Clindamycin – ein hochwirksames Antibiotikum – aus meiner eigenen Reiseapotheke, womit meine Tarnung aufflog. Im Nu wurde ich „Doc“ genannt.
John versprach, so schnell wie möglich ein Spital in Guatemala-City aufzusuchen.
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Sam liebte klassische Musik. Deswegen war er bereits mehrmals in Wien und Salzburg. Er hätte auch schon darüber nachgedacht, wegen seiner Liebe zur klassischen Musik in Wien zu leben und zu arbeiten. Sam betonte, dass er zwar zwar kein MD – medical doctor – sei aber gut ausgebildete Nurse mit viel praktischer Erfahrung und Zusatzausbildungen. Sam wollte von mir wissen, ob er in Österreich auch als RN (EC) arbeiten könne.
Voller Enthusiasmus erzählte mir Sam, dass er schon viele Jahre praktische Erfahrung als RN (EC) gesammelt hatte, dass er sehr viel selbstständig gearbeitet hatte und in diversen Spitälern andere Nurses angeleitet hatte und nur selten, wenn wirklich notwendig, MDs rufen habe müssen. In Kanada müsse man sich auf die Nurses verlassen können, da die Wege so weit sind und MDs rar sind.
Als ich Sam so reden hörte, dachte ich mir, dass etwas in Österreich von Grund auf verkehrt laufe.
In anderen Ländern machen Nurses Tätigkeiten, die in Österreich sehr oft nicht mal Ärzten:innen zugetraut werden.
Sam wollte von mir wissen, ob seine Skills und Experience in Österreich ausreichen würden, oder ob er bestimmte Courses machen müsse?
Ich sah das Leuchten in den Augen von Sam, die Freude in seinem Gesicht. Ich wollte Sam nicht enttäuschen. Ich musste Sam erklären, dass die Situation in Österreichs Spitälern gänzlich anders sei, als sonst wo in der westlich-modernen Welt, nämlich:
- dass Auszubildende Ärzte:innen routinemäßig Blutdruck messen, Infusionen und subkutanen Injektionen verabreichen, Harnkatheter setzen müssen und Blut abnehmen müssen,
- dass Ärzte:innen dem Pflegepersonal keine Anordnungen geben dürfen,
- kurz: dass alles, das er als RN (EC) bzw. Nurse Practitioner tagtäglich in Kanada macht bzw. machen muss, in Österreich, wenn überhaupt Ärzte:innen in Ausbildung oder sogar Fachärzte:innen machen und
- dass das diplomierte Pflegepersonal ständig am Krankenbett steht, Patienten:innen füttert und sogar das Essen austrägt und Tabletten einschachtelt anstelle Hilfspflegepersonal anzuleiten und zu koordinieren.
Sam schaute mich verdutzt an. Er sprach kurz von einem Downgrading und schüttelte dabei seinen Kopf. Er meinte, dass ich maßlos übertreibe und sagte, dass er mir das alles nicht glauben möchte.
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Denn Politik geht immer von Einzelnen aus.
2006 als Mel Gibsons Film Apokalypto weltweit in den Kinos anlief, wurde ich als Vertreter der auszubildenden Ärzte:innen zu einer Arbeitsgruppe eingeladen, die helfen sollte den Spitalsbetrieb in Wiens Spitälern zu reformieren.
Nicht zuletzt mein intensives Gespräch mit Sam zwei Jahre zuvor und der Vergleich mit anderen Ländern wie Kanada schärften meine Argumentationslinie.
Viele Gesunden- und Krankenpflegepersonen in der Arbeitsgruppe lehnten ebenfalls das Downgrading in Österreichs Spitälern ab. Sie sehnten sich nach ähnlichen Verhältnissen wie in Kanada. Nach „normalen“, das heißt international üblichen Verhältnissen.
Ich konnte den ersten Entwurf unseres Arbeitsgruppen-Papiers schreiben.
In unzähligen, stundenlangen, mühsamen Sitzungen und heftigstem Gegenwind konnte ich mit einigen anderen Kolleginnen und Kollegen, die unserer Linie stets treu geblieben sind, das Arbeitsgruppen-Papier erfolgreich zur Abstimmung bringen.
Weitere zwei Jahre später trat das Papier in Kraft, das letztendlich den Spitalsalltag in ganz Österreich wieder verändern sollte.
Ihr
Fahmy Aboulenein-Djamshidian
P.S.: Über den oben erwähnten Gegenwind, Trittbrettfahrer und Opportunisten könnte ich ein weiteres Buch schreiben.
Es ist nicht wichtig,
wer bewirkt hat,
sondern dass bewirkt worden ist.

