Anti-soziale Medien | anti-social Media Teil 2
Ich bin mir sicher, dass die Sozialen Medien | social media nur wegen Smartphones funktionieren, weil wir sie ständig dabei haben. Niemals würden die Sozialen Medien | social media funktionieren, wenn wir einen Standrechner anschalten müssten, den Browser öffnen und uns in die Sozialen Medien | social media einloggen müssten. Smartphones garantieren immer und überall den Kontakt zum Äther – zum Internet.
Hundeleine
Smartphones binden uns ständig an: wie Hunde an der Leine, deren Bewegungsradius von der Leine bestimmt wird. Wenn wir diese Metapher weiter fortstricken, sind die unsichtbaren Algorithmen, die hinter den Sozialen Medien | social media stecken, die Hundeleine, die wir wie Hunde genau so still schweigend akzeptieren, wie manchmal auch die strenge Hand unseres Herrn. Wir laufen mit weit herausgestreckter Zunge dem Stöckchen nach und freuen uns über Leckerlis – das Futter: den Feed – und ein paar Streicheleinheiten – den aufgesetzten „ich hab Dich lieb“ / „Gefällt mir“ Bekundungen: likes.
Entzug
Und wer sich der Droge Neugier oder der Angst, etwas zu verpassen, versucht zu entziehen, wird rasch harsch zurückgepfiffen.
Die feine Vibration des Smartphones, ein scharfer Klingelton oder eine kurze Push-Nachricht ziehen die Aufmerksamkeit sofort wieder in den Äther zurück. Alle Aufmerksamkeit soll und darf nur dem Äther – den Sozialen Medien | social media dort – gehören.
Stets haben die Menschen ihren Blick und ihre Aufmerksamkeit auf ihre Smartphones gerichtet. Das Smartphone hat schon längst die Zeitung, aber auch das in die eigenen Gedanken Versinken und das Nasenbohren abgelöst. Stets haben wir unsere Blicke und Finger am Display und vergessen die reale Welt um uns herum.
Von Hombies, FOMO und NOMO
Fußgängerinnen und Fußgänger mutieren zu Hombies. Hombie ist ein moderner Begriff, der sich aus Handy und Zombie zusammensetzt. Ein Synonym ist Smombie, das aus Smartphone und Zombie gebildet wird.
Hombies bzw. Smombies sind Personen, die unentwegt auf das Display ihrer Smartphones starren und die Welt um sie herum nicht mehr wahrnehmen. Wie lebende Untote – Zombies – wanken sie durch die Gegend und missachten dabei jegliche Verkehrsregeln. Regelmäßig queren sie bei Rot die Straße und merken nicht einmal, dass sie sich in Lebensgefahr befinden. Viele Hombies wären schon längst nicht mehr lebend untot, sondern tot, wenn nicht alle anderen im Straßenverkehr auf sie aufpassen würden.
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FOMO – Fear Of Missing Out
FOMO bezeichnet die Angst, ständig etwas Wichtiges zu verpassen, das man später bereuen würde. Es geht hierbei auch um die Angst, nicht mehr dabei zu sein, an Bedeutung zu verlieren, unwichtig zu sein. Diese Sorge und auch Angst schwelgen stets im Unterbewusstsein mit und erzeugen bei den Betroffenen einen Leidensdruck.
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NOMO – No Mobile Phone Phobia
NOMO oder die Angst, nicht mehr mit dem Äther verbunden zu sein – den Kontakt verloren zu haben – to be lost in space and in time.
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Prothesen
Smartphones sind wie neue künstliche Körperorgane, Prothesen – eigentlich Anhängsel. Viele werden unruhig, nesteln herum, fühlen sich unsicher, wenn sie ihr Smartphone vergessen haben und nicht dabeihaben. Sie fühlen sich förmlich amputiert, als ob ihnen eine Gliedmaße abgenommen worden wäre. Sie sind jedenfalls von der Außenwelt abgeschnitten.
Ob am Weg in die Arbeit, aber auch auf der Toilette oder sogar am Mittagstisch, überall müssen wir das Smartphone dabeihaben, um ja nichts zu verpassen.
So sitzen Pärchen gemeinsam, aber einsam am Tisch und chatten und surfen im Internet, anstelle gemeinsam ihr Essen zu genießen und miteinander zu reden. Sie hängen lieber in Sozialen Medien | social media herum, anstelle in der Realität – real – sozial zu sein.
Ja, früher wäre es undenkbar gewesen, mit dem Telefon am Tisch zu sitzen oder einem Kleinkind im Kinderwagen ein Vierteltelefon in die Hand zu drücken…
Und nein: „früher war nicht alles besser“.
Nein, ich sehne diese Zeit nicht wieder herbei, als die Telefonapparate um vieles größer und klobiger waren und kabellos nur in Science-Fiction-Romanen und Science-Fiction Filmen existierte. Ich war immer Technik-begeistert und bin nach wie vor Technik begeistert.
Nein, ich bin froh, dass ich nicht mehr auf ein Viertel-Telefon mit Wählscheibe angewiesen bin, das mit einem dicken Telefonkabel direkt mit der Telefondose an der Wand verbunden ist. Und mit dem ich nur telefonieren kann, wenn die drei anderen, die an der gemeinsamen Leitung hängen, nicht telefonieren, das heißt die Leitung frei ist. Viertel hieß, sich eine gemeinsame Telefonleitung mit drei anderen teilen müssen – wir mussten uns einen Kanal, Account oder Profil gemeinsam teilen.
Das Viertel-Telefon
oder ein kleiner Schwenk in meine Vergangenheit – Februar 1980:
Ich kann mich noch gut an jenen Tag am Beginn meiner ersten Semesterferien in der Volksschule erinnern. Ich war 6 Jahre alt. Es war Abend und ich war bereits im Pyjama und hatte soeben meine Zähne geputzt, als meine Mutter plötzlich laut nach mir schrie. Ich sollte zu unseren Nachbarinnen laufen und an deren Türe pumpern, damit sie endlich aufhören zu telefonieren. Die Rettung müsse sofort verständigt werden.
Ich rannte bloßfüßig nur in meinem Pyjama bekleidet in den Gang hinaus. Ich werde den eiskalten Boden und die noch kälteren Stufen hinauf und hinunter im dunklen Stiegenhaus nie vergessen. Das Stiegenhaus war nur schlecht beleuchtet. Ich weiß noch, dass ich mir damals meine kleinen Zehen an den Treppen blau und blutig stieß. Angst ließ mir mein Blut in den Adern gefrieren. Meine Mutter blieb in unserer Wohnung zurück und leistete Erste Hilfe.
Ich habe noch meine Mutter vor Augen, als sie mit der Herzmassage begann und mir mit einem Wink befahl zu laufen. Sie war Krankenschwester. Es war ein sehr kalter Abend im Februar 1980.
Neben dem Notarzt und Sanitätern standen schließlich auch unsere Nachbarinnen in unserer kleinen Wohnung und sahen mit offenen Mündern aufgeregt und nahezu freudig dem emsigen Treiben zu, um ja nichts zu verpassen. Jedes noch so kleine Detail nahmen ihre gierigen Blicke auf.
Später erzählten sie am Marktplatz Effektheischend allen, die es wollten, aber auch all jenen, die es nicht wollten, vom Rettungseinsatz an jenem Abend in unserer kleinen Wohnung. Sie suchten das Rampenlicht und suhlten sich im Beifall der Menge.
Irgendwie erinnert mich die Sensationslust, das Gaffen, der Markttratsch unserer Nachbarinnen an viele Kommentare und Videos in Sozialen Medien | social media heute. Wir Menschen ändern uns nicht so schnell wie die Technik um uns herum. Der Kern ist gleich. Nur das Drumherum ist anders.
Natürlich würden Sie – verehrte Leserinnen und Leser – an dieser Stelle auch gerne wissen, weswegen ich um Hilfe laufen musste und was damals genau passiert ist?
Ich kann Ihnen an dieser Stelle versichern, dass alles – vor mehr als 40 Jahren – gut ausgegangen ist und dass weitere Details darüber völlig irrelevant sind.
Aber viel interessanter ist, dass ich nach den Ferien in der Volksschule von ein paar Mitschülern auf den Rettungseinsatz in unserer kleinen Wohnung angesprochen wurde. Meine Mitschüler hatten über andere – mir Unbekannte, völlig fremde Personen – davon erfahren. Teilweise wussten sie über manche Details besser Bescheid als ich selbst. Meine Zehen waren damals – eine Woche später – noch blau verfärbt und fanden in keiner Geschichte Erwähnung.
Ihr
fahmy.blog