Anno dazumal im Advent
Es heißt, dass sich Menschen immer nach dem sehnen, das sie nicht haben.
Anno dazumal im Advent
Ich wollte immer schon ein Musikinstrument spielen lernen. Sowohl Gitarre als auch Klavier, aber auch die Mundharmonika hätten es mir angetan. Bis heute bin ich zwar Musik begeistert und höre grundsätzlich alles – von Klassik über Pop bis hin zu Rock und Metal, aber ich kann weder schön singen noch tanzen noch irgendeinem Musikinstrument ein paar wenige stimmige, wohl klingende Töne entlocken.
Mittlerweile ist es aber leider zu spät. Der Zug ist abgefahren. Mein Zug ist dahin.
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Es waren schon einige Türchen unseres Adventkalenders geöffnet. Unser Adventkalender stand am Fensterbrett in unserem Wohnzimmer. Ich erinnere mich zwar nicht mehr, wie viele Türchen bereits geöffnet waren, jedoch an die winterliche, heimelige Stimmung in unserem kleinen Wohnzimmer. Überall an den Fensterscheiben waren Eiskristalle zu sehen. Wir wohnten in einer alten kleinen Altbau-Wohnung. Die Doppelfenster waren undicht. Es zog. Trotzdem war es wohlig warm. Der typische Geruch des Heizöls aus unserem Ofen lag in der Luft.
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Der Besuch
Meine Großeltern waren bei uns kurz vor Weihnachten zu Besuch. Die beiden waren mit dem Zug aus dem südlichen Niederösterreich nach Wien gereist. Diesmal hatten sie die alte Ziehharmonika meiner Mama dabei. Es war sichtlich eine Überraschung. Für mich, der damals noch in die Volksschule ging, und für meinen noch kleineren, jüngeren Bruder und auch für unsere Mama.
Niemals werde ich die strahlenden, feuchten Augen und die unbändige, aber stille Freude im Gesicht meiner Mama an jenem winterlichen Abend im Advent vergessen.
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Die Ziehharmonika
Mein Großvater fragte meine Mama, ob sie noch Interesse an ihrer alten Ziehharmonika hätte und ob sie vielleicht doch wieder damit spielen wolle?
Meine Mama hatte auf dieser einen Ziehharmonika spielen gelernt, aber auch nie auf einer anderen Ziehharmonika gespielt. Meine Großeltern hatten die Ziehharmonika kaputt um wenig Geld gekauft und um noch weniger Geld reparieren lassen. Meine Mama wuchs (wie viele andere Kinder) nach dem zweiten Weltkrieg in ärmlichsten Verhältnissen auf.
„Nein, ich kann sicher nicht mehr spielen. Es ist doch bereits so viele Jahre her, als ich das letzte Mal Ziehharmonika gespielt hatte“, versuchte meine Mama ihre Neugierde und auch ihre Freude zu verbergen und dem unausweichlichen „Komm, sei nicht so. Probiere doch ein paar wenige Töne zu spielen“ meines Großvaters zu entgehen. Wir alle sahen, dass die Augen meiner Mutter leuchteten.
Mein Großvater nahm die Ziehharmonika aus dem Transportkoffer und hielt sie vor meine Mutter: „Komm‘ schon! Gib‘ Deinem Herzen einen Ruck. Nur ein paar Töne. Nur ein paar Takte. Versuch’s einfach.“
Ein Medley – eine Rhapsodie
Meine Mama schnallte sich die Ziehharmonika um. Sie hatte zuletzt als Jugendliche gespielt, bevor sie die Krankenpflegeschule begann und letztendlich nach Wien kam.
Sie drückte und zog an den Bassknöpfen und dem Balgen, bevor sie zaghaft auf der Ziehharmonika zu spielen begann. Anfängliche einzelne Töne wuchsen zu kurzen Melodien und schließlich ersten Liedern zusammen.
Meine Mama spielte fehlerfrei.
Laut, leise, jedenfalls mit viel Gefühl und Hingabe.
Ihr Repertoire reichte von alten Heimatsliedern, Volksliedern bis hin zu Weihnachtsliedern. Ihre Übergänge waren fließend.
Meine Mama spielte ohne Pause.
Ein unerwartetes Medley im Advent anno dazumal.
ein abruptes Ende
Plötzlich hörte meine Mutter auf zu spielen. Wortlos und behände schnallte sie ihre alte Ziehharmonika wieder ab und legte sie in den Transportkoffer zurück.
Wir alle – meine Großeltern, mein kleiner Bruder und ich – waren verdutzt.
Meine Mama sagte sehr bestimmt, dass sie keinerlei Zeit habe, zu musizieren. Zudem betonte sie, dass es unmöglich wäre, hier in unserer Wohnung mit einem Musikinstrument zu spielen. Unsere Wohnung wäre viel zu klein. Ein Musikinstrument, gleich welches, wäre zu laut, auch wenn das Instrument sehr klein, wie eine Flöte oder Triangel wäre.
Der Lärm – meine Mama sprach gar nicht mehr von Musik – würde nur stören und Kopfschmerzen verursachen. Und keinesfalls würde ein Musikinstrument beziehungsweise der Lärm, den ein Musikinstrument mit sich bringen würde, von unseren Nachbarn toleriert werden. Dies sei auch der Grund, warum sie uns Kindern auch nicht erlauben würde, ein Musikinstrument lernen zu dürfen.
Meine Mama schien nicht mehr umgestimmt werden zu können.
Natürlich witterten wir Kinder unsere Chance und baten Sie, weiter auf ihrer Ziehharmonika zu spielen und uns Kindern Ziehharmonika spielen beizubringen. Vergeblich.
Meine Mutter meinte, dass mein Großvater ihre Ziehharmonika sehr gerne, womöglich zu einem sehr guten Preis, verkaufen könne und dass er sich das Geld behalten soll. Sie habe keine Verwendung mehr dafür, möchte auch nichts mehr davon wissen und bedankte sich, dass die beiden ihre Ziehharmonika noch einmal nach Wien mitgebracht hatten.
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Seit ich meine Mama auf der Ziehharmonika spielen hörte, habe ich nie verstanden, warum wir Kinder kein Musikinstrument lernen haben dürfen. Seit diesem Tag vor Weihnachten anno dazumal wollte und konnte ich dies auch nie verstehen.
Bis heute habe ich keine Erklärung dafür.
Ich kann nur mutmaßen, ob meine Mama sich tatsächlich vor dem anfänglichen Geplänkel, den wirren Durcheinander richtiger und falscher Töne, die erst nach längerem und regelmäßigem Üben zu wohlgeformten Klängen werden sollten, fürchtete, oder ob sie weder Zeit noch Geld dafür investieren wollte?
Ich habe sie im Laufe der Jahre immer wieder gefragt, aber nie eine konkrete, befriedigende Antwort erhalten und werde auch, zumindest in diesem Leben, keine Antwort mehr erhalten.
Ihr
fahmy.blog
P.S. diesen Text habe ich um Allerheiligen – Allerseelen, den Tag der Toten | dia de muertos, geschrieben, an jenem Tag, an dem wir unserer Verstorbenen gedenken.